VerkehrNahverkehr

Die Stufenbahn der Gebrüder Rettig

Österreichischer Ingenieur- und Architekten-Verein • 17.4.1891

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

In Deutschland ist unter dem Namen ›Stufenbahn‹ ein neues, von den Gebrüdern Wilhelm und Heinrich Rettig erfundenes Projekt einer Stadtbahnanlage aufgetaucht, welches auf einer originellen Idee basiert und wegen der zu erzielenden Resultate beim Personen-Massenverkehr in Großstädten unser Interesse herausfordert. Die Stufenbahn besteht aus drei oder mehr nebeneinander laufenden Fahrbahnen, deren erste die Geschwindigkeit eines gewöhnlichen Fußgängers (d. i. 1,50 m/s) besitzt und um 10 cm höher liegt als, das Trottoir, von dem aus sie während der Bewegung von den Fahrgästen zu ersteigen ist. Die zweite Fahrbahn überhöht die erste abermals um 10 cm und hat eine Geschwindigkeit von 3,00 m/s, also für eine auf der tiefer liegenden Stufe stehende Person wieder die relative Geschwindigkeit eines gewöhnlichen Fußgängers und kann daher von ihr ebenso leicht erstiegen werden wie die erste Stufe vom Boden aus. Die dritte Fahrbahn endlich, auf der sich bequeme Sitze für die Fahrgäste befinden, hat eine Geschwindigkeit von 4,50 m/s und ist wieder um 10 cm höher als die vorhergehende. Auf dieser halten sich die Fahrgäste so lange auf, bis sie am Ziele angelangt sind oder auf eine andere Linie umsteigen müssen.

Die Reisenden bewegen sich daher während der ganzen Fahrt mit einer Geschwindigkeit von 4,50 m/s und verlieren wenig Zeit mit dem Warten auf den Zug und mit dem Anhalten in den einzelnen Stationen, sondern haben die Fahrgelegenheit jederzeit zur Verfügung und brauchen bloß zu dem nächsten Punkte der Bahnlinie zu gehen, und dort aufzusteigen, desgleichen auch auf jenem Punkt der Bahnlinie abzusteigen, welcher dem Reiseziel am nächsten liegt. Die Folge davon ist, dass man an Zeit erheblich erspart, und zwar für Fahrten von 1 – 10 km durchschnittlich, im Verhältnis

a) zur Eisenbahn:25,6 %
b) zur Droschke:29,4 %
c) zur Pferdebahn:42,8 %
d) zum Fußgänger:58,0 %

Erst bei Entfernungen über 10 km kommt die größere Fahrgeschwindigkeit der Eisenbahnen zur Geltung.

Für sehr frequente Strecken im Weichbild einer Großstadt kann noch eine vierte Fahrbahn angeschlossen werden, die sich mit einer Geschwindigkeit von 6,00 m/s bewegt, in welchem Fall die Stufenbahn alle bisher bekannten Systeme von Stadtbahnanlagen, was die Schnelligkeit und Bequemlichkeit der Beförderung betrifft, weit überflügelt.

Auch sonst ist die Leistungsfähigkeit der Stufenbahn eine sehr erhebliche. Mit derselben können bei der normalen Anordnung von drei Fahrbahnen (die Erfinder nennen dies ›Zwei-Stufenbahn‹) 12 000 Personen in der Stunde befördert werden. Eine ähnliche Leistung seitens der Eisenbahn würde das Ablassen von 30 Zügen mit je 8 Waggons in der Stunde erfordern, und entspricht einem Verkehr, wie er beispielsweise auf der Strecke Farringdon Street-Station und Mooregate-Station der Hauptbahn der London Railway Co. vorkommt, woselbst täglich 586 Züge auf vier Gleisen befördert werden. Hierbei nimmt die Stufenbahn einen ganz kleinen Raum ein, da die eng aneinander anschließenden Fahrbahnen nur etwa 0,80 m breit zu sein brauchen.

Was das technische Detail anbelangt, so ist die Anlage als Hoch- oder Tiefbahn, in ganz geschlossenem Raum gedacht.

Die einzelnen Fahrbahnen bilden geschlossene Ringe, welche von stabilen Maschinen mit Kabeln bewegt werden. Die Fahrbahnen bestehen aus ununterbrochen zusammenhängenden Reihen von 2,20 m langen Wagen, mit Spurweiten von 60 – 70 cm, und vertragen sehr starke Krümmungen. Jeder Wagen besitzt ein Geländer, nahe an der Kante des Aufstiegs, und einen freien Zwischenraum zum Aufsteigen der Personen. In entsprechenden Entfernungen (alle 50 m) führen Stiegen auf das Planum des Bahnkörpers.

Die erforderliche Betriebskraft ist bei leergehender Bahn wesentlich höher als bei einer Stadteisenbahn. Das Verhältnis stellt sich jedoch schon bei mäßiger Besetzung für die Stufenbahn günstiger. Bei voller Besetzung eines Rings beträgt die Betriebskraft nach den Berechnungen der Erfinder nicht einmal ein Viertel derjenigen, welche für den gleichen Verkehr beim Eisenbahnbetrieb erforderlich ist.

Hat man sich einmal mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass das Aufsteigen auf die Stufenbahn sehr leicht ist, so findet man bei näherer Betrachtung, dass dieses System gegenüber allen bisher in Städten zur Anwendung gekommenen Verkehrsmitteln, bedeutende Vorzüge besitzt, wozu in erster Linie die mit großer Schnelligkeit verbundene Bequemlichkeit bei der Beförderung, dann auch die aus der verhältnismäßig billigen Anlage sich ergebende Billigkeit der Fahrt zu zählen ist. Es ist daher gewiss auch von Interesse zu erfahren, dass die in Deutschland angestellten ersten praktischen Versuche vollkommen zufriedenstellend ausgefallen sind. Das Auf- und Absteigen ist auf einer ca. 160 m langen Versuchsstrecke in Münster i. W. probiert worden und ist der Beweis geliefert, dass Alt und Jung, ohne Gefahr diese neue Bahn benützen können.

• Julius Mandl

Entnommen aus dem Buch:

Neuerscheinung

Die Aufbruchstimmung und der technische Fortschritt im 19. Jahrhundert führten zu immer neuen Erfindungen, die den Verkehr beschleunigen und die Antriebe optimieren sollten. Dabei wurde oft das System von mit Dampflokomotiven bespannten Zügen auf zwei Schienen grundlegend in Frage gestellt. Manche dieser Ideen sind heute wieder aktuell, und so lohnt sich ein unverfälschter Blick auf dieses interessante Kapitel der Verkehrsgeschichte.
  PDF-Leseprobe € 18,90 | 148 Seiten | ISBN: 9-783-7583-7184-4

• Auf epilog.de am 16. November 2023 veröffentlicht

Reklame