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Die Luft-Eisenbahn in Woolwich

Die Gartenlaube • 1856

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

›Aerial Railway‹, Lufteisenbahn, las ich. Eisenbahn von Luft oder durch die Luft? Fliegende Luftballons, Flugmaschinen, Ikarus von Eisen, beschwingte Ungeheuer paffend und schnarchend durch die Luft sausend, Eisenschienen durch die Luft gelegt ohne Unterlage – oder wie? Lufteisenbahn! Wie sieht das Ding aus? Die muss ich sehen, koste es, was es wolle.

Es kostete viel, denn die englische Regierung tut schrecklich geheim mit ihrer Diplomatie von Eisen und ›flüssigem Feuer‹ in Woolwich, aber ich fand doch endlich durch Fürsprache und eine Kette von Empfehlungen Einlass in diese meilengroße, seltsame, entsetzliche Kriegswerkstatt. Ungegründetes Misstrauen, wenigstens was mich betrifft.

Nichts Einfacheres und Simpleres als diese Lufteisenbahn. Wenn Einer an einem schief herabgespannten Strick herunterrutscht, hat er das Modell und die Praxis der Lufteisenbahn sofort beisammen. Simpel, aber doch und just deshalb sehr praktisch und von wichtiger Bedeutung. Man braucht jetzt nicht mehr, wo es aus anderen Gründen nicht nötig und nützlich ist, Berge zu durchbrechen, Tiefen auszufüllen, Brücken über Flüsse zu bauen. Man führt die Lufteisenbahn sofort nach den Gesetzen der Gravitation und der schiefen Ebene darüber hinweg, lässt sich, wenn es weiter gehen soll, auf der nächsten Station, wo die schiefe Ebene alle wird, sofort wieder in die Höhe Hebeln, und schnurrt dann den nächsten Lustberg am Schnürchen herunter usw.

In Woolwich rutscht man, wie die Abbildung zeigt, mit einer Last von zwanzig Tonnen sogar bergauf – herunter. Der große Wagebalken nämlich, an dessen beiden Enden die Eisenbahnschnüre von geflochtenem Eisendraht angebracht sind, kann je mit einer Hälfte höher gezogen werden, als die gegenüberliegende Anhöhe mit ihrem entsprechenden, herabgesenkten Wagebalken. Die Last rutscht also in einer Rolle vom Tale aus den Berg herauf – hinunter. An der nächsten Station angelangt, rollt sie in einen Apparat, durch welchen sie sofort auf die nächste, höhere Schnur gehoben wird, so dass sie wieder bergauf hinunterlaufen, und so am Ende bis auf die höchste Höhe der sächsischen Schweiz immer bergab hinaufsteigen und dabei Täler und Flüsse ohne Mühe überspringen könnte. Das Schöne der Erfindung, des französischen Ingenieurs M. Balan, besteht gerade darin, dass man im Bergaufsteigen alle Vorteile des Herabsteigens genießen kann und doch sicher in die Höhe kommt.

Es ist aber sofort klar, dass die Erfindung für alle Operationen und Lokomotionen in bergigen, schluchtigen, morastischen, von Wasser und Strömen behinderten Gegenden von der größten Wichtigkeit sein, und diese unendlich erleichtern muss.

Man hat gefunden, dass die Lufteisenbahn überall in beliebiger Länge gezogen werden kann, wo die Entfernung der einzelnen Stationen nicht über 400 Yards [rund 365 m] ausgedehnt zu werden braucht, so dass sich also schon ziemlich breite Flüsse und Täler durch die Luft überbrücken, und in Lasten und Ladungen durchlaufen lassen, und zwar in beiden Richtungen, da man mit den beweglichen Stationsbalken die schiefen Ebenen bald nach der einen, bald nach der andern Seite herab senken kann. Notabene, hat man auch bereits angefangen, innerhalb der luftigen Schienen Kupferdrähte einzuflechten, womit man sofort einen elektrischen Telegrafen hin und her korrespondieren lassen kann.

Der Apparat in Woolwich ist zunächst noch eine einfache Station, auf welcher man vor meinen Augen große Bausteine, Kisten und Baumaterialien aller Art spielend hin- und hergleiten ließ. Also handgreifliche Demonstration, dass man ohne Plackerei und Qual, ohne Pferde- und Dampfkraft Personen und Sachen vielzentnerweise eben so leicht und leichter bloß vom Gesetz der Schwere durch die Lust transportieren kann, wie jetzt mit Kosten und Gefahren vermittelst Pferde- und Dampfkraft. Das Gesetz der Schwere kostet gar nichts, wie die Natur denn überhaupt alles umsonst gibt. Jede andere Art zu reisen, und sei es die wohlfeilste, ist ziemlich kostspielig, wie man mit Erstaunen erfahren würde, wenn man berechnete, wie viel Kraft ein Mensch schon benötigt, nur um gemächlich von Berlin nach Schöneberg oder von Leipzig nach Eutritzsch zu spazieren.

Für den Furchtsamen und mathematisch Uneingeweihten, der sich jetzt schon vornimmt, auf der künftigen Luftrutschbahn nicht mitrutschen zu wollen, weil etwa die Leute an jedem ablaufenden Ende der schiefen Ebene unsanft mit den Nasen zusammenstoßen müssten, bemerken wir noch, dass die biegsamen Verbindungstaue, an denen man hinabrutscht, nicht genau eine schiefe Ebene bilden, sondern so konstruiert sind, dass sie sich am Ende wieder so viel erheben, um das Gesetz der beschleunigten Geschwindigkeit beim Falle so zu neutralisieren, dass die herabrollende Last nur eben bergauf so weit getrieben wird, um sich vom nächsten Balken wieder zur nächsten Station in die Höhe hebeln zu lassen, dass also der ganze Apparat eine genaue, angewandte Mathematik ist mit wissenschaftlicher Berechnung aller mitspielenden Gesetze.

Also nur immer gleich frisch mit hinein in den ersten Lufteisenbahnzug, so bald es losgeht. Und ich sollte meinen, es wäre keine schlechte Spekulation, irgendwo vor der Stadt draußen eine solche Luftrutschbahn zunächst zum Vergnügen der Leute zurecht zu machen, 1 Sgr. pro Rutsch und Person, Kinder die Hälfte, im Abonnement viel billiger.

• Auf epilog.de am 24. April 2022 veröffentlicht

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