VerkehrSchifffahrt

Das Automobil auf Schleppwegen

Allgemeine Automobil-Zeitung • 29.4.1900

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Wieder eine neue Provinz im weit verzweigten Handelsverkehr hat das Automobil erobert und das Pferd aus seiner Machtsphäre hinausgedrängt. Wieder einmal hat der technische Erfindungsgeist über die animalische Leistungskraft triumphiert. Das ›elektrische Pferd‹ ist an Stelle des sich mühsam fortarbeitenden Zugpferdes auf den Schleppwegen erschienen. Der langsame und billige Frachttransport wird durch einen noch billigeren und rascheren ersetzt werden.

Der Beförderung von Kanalbooten wurde bisher bei weitem nicht jene Aufmerksamkeit geschenkt, die den Bahnen, Dampfern und Straßenvehikeln zuteilward. Es sind heute nur wenige Raddampfer und Schlepper für den Kanal-Schleppdienst in Benutzung, da man sich Jahrhunderte diese Arbeit durch Pferde, ja selbst durch Menschen besorgen ließ. Die hiebei erreichte Durchschnittsgeschwindigkeit ging nie über 1½ km/h hinaus.

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Jetzt ist die Zeit gekommen, wo man einsieht, dass der Transport auf Wasserwegen hinter dem auf Schienensträngen in der Entwicklung nicht zurückbleiben dürfe. Beide haben sich in den Frachttransport zu teilen, der eine Weg ist der raschere, der andere der billigere.

Um jedoch selbstbewegliche Schiffe allgemein zu verwenden, müssten vor allem die jetzt existierenden Kanalwege vom Grund auf reorganisiert werden, denn die heutigen Wasserstraßen sind im Allgemeinen für Fahrzeuge von größerem Tonnengehalt, die allein einen rentablen Verkehr versprechen, unzulänglich. Länder mit ausgebreitetem Kanalsystem eröffnen der Verwendung von Dampf- und elektrischen Motoren ein neues, aussichtsreiches Operationsfeld.

Der französische Ingenieur Galliot hat eine elektrische Straßenlokomotive in Vorschlag gebracht, die ohne Gleise läuft und mit denselben Tauen, wie bisher bei den Pferden, die Schiffe schleppt. Die Zugkraft der Schleppdampfer und sonstiger Bugsierschiffe wird durch die schwerfällige Maschinerie, die sie mit sich führen, stark reduziert, anderseits verursachen Schaufelräder und Schiffsschraube einen so heftigen Wellenschlag im Kanal, dass dessen Grund und Seiten darunter leiden müssen. Die Ketten schleifen auf dem Grunde des Wasserweges und beschädigen denselben dadurch in bedenklicher Weise.

Die besten Resultate hat man bisher mit einem mittelstarken Elektromobil erzielt, das auf einer oder zwei Schienen läuft.

Zwei voneinander gänzlich verschiedene Systeme, das eine von dem Amerikaner Lamb, das andere unter der Leitung von Köttgen aus Berlin, wurden am Finowkanal erprobt. Es war eine gewisse Anzahl von Schiffen von 150, 170 und 350 Tonnen Gehalt zu schleppen. Der Kanal bot alle jene Schwierigkeiten, auf deren Überwindung es hauptsächlich ankommt, nämlich scharfe Windungen, Brücken und Landungsplätze. Die nach Lambs System konstruierte Zugmaschine ist ein Elektromobil mit Kabelleitung. Längs des Schleppweges wurden kräftige Holz- oder Eisenpfosten eingerammt, die zwei starke, in derselben Vertikalebene befindliche Kabel von 1,5 cm, respektive 3,2 cm Durchmesser trugen. Der Motor steht mit einer gekerbten Rolle in Verbindung, die auf dem oberen Kabel läuft. Das Totalgewicht der Maschine beträgt 900 kg, sie leistet 5 PS und legt stündlich 3,3 km zurück. Die an den Kurven stehenden Pfosten müssen möglichst stark verankert sein, damit sie einer intensiven Beanspruchung gewachsen sind.

Der Haupteinwand gegen dieses System betrifft die zu starke Abnützung der Leitungs- und Bugsierkabel, die allzu häufige Reparaturen notwendig macht, welche bei der großen Höhe auch mit Schwierigkeiten verbunden sind. Immerhin hat es den Vorteil, den Schleppweg nicht zu verlegen. Wenn eine geschleppte Barke an leeren, am Ufer vertäuten Fahrzeugen vorbeikommt, kann das leicht geschehen, da das Schleppkabel mehr als drei Meter über den verankerten Booten hinzieht.

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Das Köttgen-System hat sich noch besser bewährt. Eine elektrische Lokomotive läuft längs des Ufers und schleppt die Barken mittels eines Taues. Sie bewegt sich auf zwei Schienen, wenn der Schleppweg nicht stark frequentiert wird, oder nur auf einer, und zwar auf der Außenseite des Ufers, um den Uferweg nicht zu versperren. Auf der dem Kanal zugekehrten Seite laufen zwei Räder mit breiten Felgen direkt auf dem Boden. Der hiebei verwendete elektrische Strom hatte 500 Volt Spannung und wurde der Maschine durch eine Trolleyleitung zugeführt. Die Lokomotive hatte 16 PS und wog zwei Tonnen. Das Schlepptau ist in einer Höhe von etwa einem Meter an der Maschine befestigt. An der Barke ist es an einem fünf bis sechs Meter hohen Mast angebracht. Um hohe Hindernisse zu vermeiden, kann das Tau an der Maschine auch in zwei Meter Höhe befestigt werden. Der Lokomotivführer hat seinen Sitz gegen das Wasser zugekehrt. Er kann so gleichzeitig sein und das von der entgegengesetzten Seite kommende Fahrzeug überblicken. Zu seiner Linken befindet sich der Anlass- und Lenkapparat, zur Rechten eine mechanische Bremse. Da die Schleppwege zumeist ohne besondere Unebenheiten verlaufen, kommt sie nur selten in Anwendung. Zur Rechten des Führers befindet sich auch eine Signalglocke, welche den Bootsmann avisiert und eine Verständigung ermöglicht. Die Geschwindigkeit ist relativ gering, 3 – 4 km/h, so dass der Lenker während der Fahrt absteigen kann.

Wenn ein Kanal auf beiden Seiten Schleppwege hat, kommen und gehen die Lokomotiven zwischen den Kopfstationen, die 24 – 32 km auseinanderliegen. Ist nur ein Weg vorhanden, was zumeist vorkommt, so laufen die Maschinen alle 2 – 6 km in ein Relais ein und tauschen rasch ihre Taue und Lasten. Sie können drei voll beladene Barken oder zwei volle und zwei leere schleppen.

Die Lokomotiven sind vollkommen stabil und verbleiben auch bei Regen und Schnee im Gleis.

• Auf epilog.de am 1. November 2023 veröffentlicht

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