VerkehrEisenbahn

Elektrische Lokomotiven

Das Neue Universum • 1896

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.
Tunnelausgang zu BaltimoreTunnelausgang zu Baltimore mit den elektrischen Stromleitungen.

Ob der elektrische Betrieb auch für die Eisenbahnen des Fernverkehrs mit Vorteil anwendbar ist, darüber gehen die Urteile der Fachleute noch sehr auseinander. Die Elektrotechniker sind wohl geneigt, diese Frage ohne weiteres mit ›Ja‹ zu beantworten, die gewiegten Eisenbahntechniker schütteln aber noch bedenklich die Köpfe und meinen ›Nein‹. Wie dem auch sein mag, jedenfalls sind nach dieser Richtung hin schon Ausführungen im Großbetrieb unternommen worden, und zwar, wie gewöhnlich, seitens der rasch vorgehenden, wenig bedenklichen und auch zu den gewagtesten Versuchen leicht bereiten Amerikaner. Gewiss kann es sich hierbei nicht um die vollständige Verdrängung der Dampflokomotive aus dem Eisenbahnbetrieb handeln, denn dies wäre ebenso unsinnig, als wenn man nur eine einzige Art der Beleuchtung einführen wollte; wohl aber kann man ohne weitere Bedenken zugeben, dass für gewisse Fälle der elektrische Betrieb auch für den Fernverkehr auf Eisenbahnen Vorteile hinsichtlich der Schnelligkeit und Bequemlichkeit gegenüber der Dampflokomotive bieten wird. In der Tat hat der elektrische Eisenbahnbetrieb bereits eine großartige und sehr interessante Anwendung auf der Baltimore- und Ohio-Eisenbahn in den Vereinigten Staaten gefunden. Es handelt sich dabei jedoch nicht um den Fernverkehr, sondern nur um eine durch Baltimore führende, und zwar auf einen größeren Teil durch einen 2,5 km langen Tunnel gehende Zweigbahn von 11 km Länge; hier ist der elektrische Betrieb von Vorteil wegen der Rauchlosigkeit. Die Bahn führt durch den geschäftsreichsten Teil der Stadt, wo eine Station angelegt ist, und durch ihre Benutzung wird auf der Fahrt zwischen New York und Washington ein Zeitgewinn von 35 Minuten erzielt, was bei der Parole ›Time is money‹ schon sehr wesentlich erscheint. Die Anlage ist von der General Electric Company ausgeführt worden und die Gesellschaft der Baltimore-Ohio-Bahn wird dieselbe erst übernehmen, wenn das Programm in allen Punkten sich erfüllt zeigt.

MaschinenteileDer eine der beiden Maschinenteile der elektrischen Lokomotive.

Die große elektrische Stromerzeugungsanlage enthält 11 Dampfkessel von je 250 PS, welche 4 Dampfmaschinen von je 700 PS speisen. Jede dieser Dampfmaschinen betreibt direkt eine zehnpolige Dynamomaschine mit 110 Umdrehungen; dieselben liefern zusammen bei 700 Volt Spannung einen elektrischen Strom von 3000 Ampere für den Betrieb der elektrischen Lokomotiven. Die Stromleitung ist oberirdisch und besteht aus zwei Eisenschienen von Z-förmigem Querschnitt, die auf ein Kupferblech von 25 mm Dicke aufgenietet sind und zwischen sich einen Spalt von 25 mm Breite für den Gleitkontakt lassen. Diese Leitung ist innerhalb des Tunnels an dessen Gewölbe und außerhalb an eisernen Säulen mit etwa 40 m Zwischenraum befestigt. In unserer ersten Abbildung ist der Ausgang des Tunnels und die Art und Weise der Aufhängung der Stromleiter an den Säulen dargestellt. Der Rauch, der im Bild sichtbar ist, rührt von der letzten Dampflokomotive her, welche den Tunnel vor der Eröffnung der elektrischen Bahn durchfuhr. Aus den beiden folgenden Abbildungen ist die Einrichtung der elektrischen Lokomotive im ganzen und in ihren Hauptteilen ersichtlich; dieselbe hat 96 Tonnen Gewicht und sie darf als die stärkste elektrische Lokomotive gelten, die bis jetzt gebaut worden ist. Diese Maschine besteht aus zwei Teilen, von denen jeder einen auf 4 Rädern ruhenden Rahmen bildet. Jede der 4 Achsen mit ihren beiden Rädern wird durch einen Elektromotor mit 6 Magnetpolen betrieben. Diese Motoren sind durch Federn gestützt und übertragen ihre Kraft auf die Achsen mittels biegsamer Verbindungen. Die Motoren sitzen auf der Radachse, so dass diese Achsen mit den Motoren gleiche Umdrehungsgeschwindigkeit haben. Die beiden Motoren jedes Rädergestells sind auf Spannung verbunden und jeder arbeitet mit 250 Volt. Die Leitung ist auf 500 Volt Spannung und auf eine größte Stromstärke von 2700 Ampere berechnet, wobei die Lokomotive ihre größte Zugkraft von 21 500 kg liefert. Es entspricht diese Leistung etwa 1780 Pferdestärken.

Jeder der 4 Motoren kann bei der Maximalleistung 900 Ampere Stromstärke absorbieren, jedoch kann für kürzere Zeit auch ein noch viel stärkerer Betriebsstrom benutzt werden. Die Maschine ist natürlich mit den erforderlichen elektrischen Hilfseinrichtungen, wie Strommesser, Bremse usw. versehen. Auch eine Signalpfeife ist vorhanden, welche in diesem Fall anstatt mit Dampf mit komprimierter Luft in Tätigkeit versetzt wird.·Zu dem Zweck ist eine elektrisch betriebene Luftpumpe vorhanden. Die normale Fahrgeschwindigkeit beträgt nur 24 km/h, sie kann jedoch bis auf 80 km/h gesteigert werden, wenn nur leichte Züge zu befördern sind.

Gesamtansicht der elektrischen LokomotiveGesamtansicht der elektrischen Lokomotive, erbaut von der General Electric Company für die Baltimore- und Ohio-Eisenbahn.

• Auf epilog.de am 20. Oktober 2017 veröffentlicht

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