VerkehrEisenbahn

Die technische Instruierung
der Eisenbahn-Beamten

Das Neue Universum • 1898

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Kaum in einem andern Beruf hat die technische Ausbildung der Beamten eine höhere Wichtigkeit als im Eisenbahnbetrieb. Hier, wo ein einziger falscher Handgriff oder die Unkenntnis eines Konstruktionsteiles das Leben von Hunderten gefährden kann, kommt doppelt viel darauf an, dass jeder den Zug begleitende Beamte einen möglichst genauen Einblick in alle technischen Einzelheiten hat, und dass im Notfall stets einer die Funktionen des andern übernehmen kann. Es sind deswegen schon in verschiedenen Ländern Eisenbahnfachschulen eingerichtet worden, zu dem speziellen Zweck, die den Zug begleitenden Unterbeamten über die technischen Erfordernisse ihres Berufes nach Möglichkeit zu unterrichten. Die originellste dieser Eisenbahnschulen besitzt jedenfalls das Land so vieler andrer origineller Einrichtungen, Amerika, welches zu einer führenden Stellung in dieser Beziehung um so eher geeignet war, als es ja überhaupt das Land der Eisenbahnen ist.

Da auf den großen, durchweg in privaten Händen befindlichen Eisenbahnsystemen der Vereinigten Staaten die Zahl der Beamten auf das mindeste eingeschränkt ist, dafür aber auf die Tüchtigkeit des einzelnen um so mehr gegeben wird, so ist hier die genaue technische Instruierung der Unterbeamten von um so größerer Wichtigkeit. Um die Gelegenheit zu einem solchen Unterricht den Beamten bei einem möglichst geringen Aufwand von Zeit und Unbequemlichkeit für den Einzelnen zu geben, hat man in den Vereinigten Staaten bereits rollende Eisenbahnfachschulen eingerichtet, welche in ähnlicher Weise wie die Kirchenwagen der transkaspischen und sibirischen Bahn bald dieses, bald jenes Stück der zum Teil ungeheuer ausgedehnten Eisenbahnnetze befahren. Das Innere eines solchen Gefährtes, von den Amerikanern Instructioncar oder Unterrichtswagen genannt, zeigt unsre begleitende Abbildung, und zwar eine Schule auf Rädern, wie sie im Gebrauch der Cleveland-, Cincinnati-, Chicago- und St. Louis-Eisenbahn steht. Äußerlich unterscheidet sich ein solcher Wagen sehr wenig von einem der gewöhnlichen, eleganten Personenwaggons amerikanischer Linien. Er ist 16 m lang, von gefälligem Äußern und seiner inneren Einrichtung nach nur in zwei verschieden große Räume geteilt. Der kleinere davon dient den mitfahrenden Beamten als Wohnraum, enthält zwei Betten, Toiletten, Stühle, einen Arbeitstisch und einige andere Bequemlichkeiten. Der größere Teil des Wagens, den unsere Abbildung wiedergibt, dient dagegen lediglich den Zwecken des Unterrichts.

Wer eine solche Schule auf Rädern betritt, wird anfänglich von der Fülle ihres Inhalts ein wenig verwirrt sein. Der größte Teil der vorhandenen Apparate dient dazu, die Eleven mit allen Einzelheiten der verschiedenen Bremssysteme, als der wichtigsten mechanischen Vorrichtung, vertraut zu machen. Da ist zunächst das zusammenhängende Modell einer Luftbremseneinrichtung für je eine Lokomotive von vier oder fünf Achsen, daran an schließend aber die Bremseinrichtungen, welche dem Zugführer und dem übrigen Beamtenpersonal in Notfällen zu Gebote stehen. Eisenbahnschule auf Rädern Natürlich sind von allen diesen Vorrichtungen nur diejenigen ausgeführt, welche für die Bremsung selbst von Wichtigkeit sind, also nicht etwa Wagenmodelle und dergleichen, wohl aber die gesamten Bremszylinder, Bremsklötze, der Hebelmechanismus, die Rohrleitung, die Kuppelungsschläuche und Verbindungsschrauben eines Zuges von sechs bis sieben Passagier- und Güterwagen, alles in derjenigen Ordnung und Folge, wie es die Wirklichkeit verlangt. Um die Verbindung der Apparate mit den Waggons zu zeigen, sind anschauliche Fotografien an der Wand aufgehängt. Ebenfalls an den Wänden und auf einigen Tischen des Unterrichtswagens befinden sich durchschnittene Modelle derselben Apparate, um deren innere Einrichtung zu zeigen, und endlich ist in einer Ecke ein Druckkessel mit Luftpumpen aufgestellt, der es gestattet, einige der vorhandenen Bremsapparate wirklich in Tätigkeit zu setzen. Dampfinjektoren, Luftpumpen, Schmiervorrichtungen, Sandstreuapparate und die andern Einzelheiten des Lokomotivmechanismus, so weit sie nicht direkt das Verständnis des Ingenieurs verlangen, sind ebenfalls in Fotografien, Zeichnungen und Modellen dargestellt. Die ganze Einrichtung dieser rollenden Unterrichtsanstalten ist wohnlich und bequem, der deutsche Eisenbahnfachmann kann sogar konstatieren, dass das Beleuchtungssystem der ersten deutschen Firma für Waggonbeleuchtung, der Fabrik von Pintsch in Berlin, auch auf diesen amerikanischen Wagen zu Hause ist.

Nicht so bequem und bündig wie dieser amerikanische Anschauungsunterricht, aber um so gründlicher ist derjenige, den Russland, wo das System der Staatsbahnen fast ebenso unbeschränkt herrscht wie in Frankreich und den Vereinigten Staaten dasjenige der Privatbahnen, seinen Eisenbahneleven zu teil werden lässt. In verschiedenen russischen Gouvernements bestehen technische Unterrichtsanstalten für die niedere und mittlere Eisenbahnkarriere, in welchen Zug- und Lokomotivführer, Mechaniker und Hilfsmechaniker, Telegrafisten usw. äußerst sorgfältig auf Staatskosten für ihren Beruf erzogen werden. Man zieht dabei zunächst die Kinder des vorhandenen Eisenbahnpersonals heran und lässt erst, wenn deren nicht genügend vorhanden, andere junge Leute zwischen 14 und 18 Jahren gegen eine jährliche Zahlung von 32 Mark ebenfalls zum Unterricht zu. Der Kursus umfasst fünf Jahre, von denen hauptsächlich die beiden letzten für die technische Instruktion verwandt werden. Die Herstellung und Unterhaltung der Geleise, die Zugführung, Werkstattarbeit, die Telegrafie werden bei jedem Einzelnen besonders berücksichtigt, je nach dem Dienstzweig, dem er sich zu widmen beabsichtigt. Aber auch in den allgemeinen technischen nnd physikalischen Kenntnissen wird bei allen ein guter Grund gelegt. Beim Verlassen der Unterrichtsanstalt bekommen die Zöglinge nicht nur ein Diplom, welches ihnen die Anwartschaft auf eine Stelle im Eisenbahndienst gibt, sondern auch eine Berechtigung zur Abkürzung ihrer Militärzeit. Die guten Erfolge, welche der Staat mit dieser Methode des Eisenbahnunterrichtes erzielt hat, haben auch die wenigen noch vorhandenen Privatbahnen dazu bewogen, es ihm in der Gründung solcher Anstalten nachzutun.

• Auf epilog.de am 13. September 2021 veröffentlicht

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