VerkehrEisenbahn

Serpollets selbstfahrender Postwagen

Das Neue Universum • 1898

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Zu den erfolgreichsten Hilfsmitteln der Automobil- oder Motorwagentechnik hat seit seiner Erfindung der hauptsächlich aus Schlangenrohren bestehende, nach seinem Erfinder benannte Serpollet-Kessel gehört. Vom Dreirad und der Motordroschke bis zum Straßenbahnwagen hat Serpollet fast jede Gattung von selbstfahrenden Wagen mit mehr oder weniger Erfolg mit seinem Kessel und Dampfmotor ausgestattet. Das bedeutsamste Ereignis unter allen diesen Erfolgen ist jedoch die 1897 eingeführte Anwendung von Serpollet-Wagen im gewöhnlichen Eisenbahnverkehr. Die französische Nordbahngesellschaft hat, nachdem schon vorher auf der Linie Paris – Lyon Serpollet-Wagen zur Bewegung leichter Züge oder einzelner Gepäckwagen verwendet worden waren, zwischen Creil und Beauvais einen regelmäßigen Nachtpostdienst mit Serpollet-Lokomotiven eingerichtet.

Serpollet-LokomotiveSerpollet-Lokomotive für den Postdienst.

Widmen wir zuerst diesem neuen Zugmittel selbst, das ebenso wohl allein, als in Verbindung mit leichteren Personen- oder Gepäckzügen verwendet worden ist, eine kurze Schilderung. Der selbstfahrende Postwagen, der in sich die Eigenschaften einer Lokomotive und eines Fahrzeugs für den Personen- oder Postverkehr vereinigt, besitzt eine Gesamtlänge von 5,3 m. Er enthält in seinem hinteren Teil einen vom Führerstand zugänglichen Post- oder Personenraum, vor demselben, über der Vorderachse, den Serpollet-Kessel und auf der vorderen Plattform den Führerstand mit den Steuerungs- und Regulierungsapparaten. Der Führerstand ist genau wie derjenige einer gewöhnlichen Lokomotive durch eine Bedachung und eine eiserne, mit Fenstern versehene Wand geschützt; er enthält außer dem Steuerungshebel und Regulator eine Handpumpe und Luftbremse, außer den gewöhnlichen Manometern noch ein Pyrometer zum Anzeigen der Dampftemperatur im Kessel, welches dem allein auf der Maschine befindlichen Führer die Verorgung des Feuers erleichtert. Der Serpollet-Kessel hat ein Gewicht von 2,85 Tonnen, eine Heizfläche von 11,3 m² und eine Rostfläche von 0,46 m², trotzdem beansprucht er wenig mehr als 1,2 m² Platz zur Aufstellung. Er gibt seinen Dampf von 18 Atmosphären Druck, die in den engen Röhren dieses Kesselsystems entwickelt werden können, an zwei Maschinen mit Stephensonscher Steuerung ab, welche, wie bei einigen neueren Lokomotivsystemen, unter dem Boden des Wagens liegen und die Kurbeln der Treibachse ohne weitere Zwischenglieder in Bewegung setzen. Der mitgenommene Wasservorrat befindet sich in einem Reservoir von 650 l Inhalt, welches unter dem hinteren Teil des Wagengestells aufgehängt ist, um das Gewicht des vorne stehenden Kessels auszubalancieren. Zur Feuerung werden Briketts mitgeführt, die neben dem Kessel Platz finden. Mit 10 Passagieren besetzt, besaß das ganze Gefährt ein Gewicht von 18 Tonnen, während auch die leichtesten tenderlosen Stadtbahnlokomotiven mindestens das Doppelte wiegen.

Der Wagen, der aufgrund seiner ersten Benutzung für den nächtlichen Postverkehr auf Eisenbahnlinien in Frankreich den Namen Post-Automobilwagen erhalten hat, ist sehr geeignet, einige Aufgaben des Eisenbahnverkehrs zu lösen, die man mit gewöhnlichen Lokomotiven schwer bewältigen kann. Es ist häufig erwünscht, auch auf Linien, wo der Hauptverkehr während der Nacht ruht, während dieser Zeit leichte Züge von zwei bis drei Wagen zur Bewältigung eiliger Postsendungen verkehren zu lassen. Doch ist für diesen Zweck der Betrieb der gewöhnlichen schweren Lokomotiven bei weitem zu kostspielig. Die Postlokomotive von Serpollet ist dagegen vorzüglich geeignet, diese Lücke im Eisenbahnverkehr auszufüllen. Auf der Linie Creil – Beauvais wurde sie seit dem Juni 1897 zum Versehen des nächtlichen Postdienstes zwischen diesen Städten und allen Zwischenstationen benutzt. Der Zug fährt um 11:30 von Beauvais ab, erreicht das 89 km entfernte Creil 12:40 Uhr und tritt um 3:40 Uhr die Rückkehr an, die um 5 Uhr vollendet ist; dabei werden der Maschine stets zwei Postgepäckwagen und häufig noch ein Wagen für den Transport frischer Seefische, in diesem Falle also ein Zug von 42 Tonnen, angehängt. Die Unterhaltungskosten eines gewöhnlichen Zuges werden dabei nicht entfernt erreicht. Zunächst gebraucht der Postzug weder Schaffner noch Heizer, sondern außer dem begleitenden Postbeamten nur einen einzigen Maschinisten. Ferner aber ist auch der Brennstoffverbrauch ein außerordentlich kleiner: zum Anheizen, das beiläufig nur 45 Minuten oder die Hälfte bis ein Drittel der bei gewöhnlichen Lokomotiven erforderlichen Zeit beansprucht, gebrauchte man durchschnittlich 40 kg Briketts und dann zur Ausführung des ganzen, mit der Wartezeit fast 6stündigen Dienstes nur noch 150 kg.

Fahren diese Züge mit nur mäßiger Geschwindigkeit, so wurde durch weitere Versuche festgestellt, dass die Serpollet-Lokomotive auch bedeutend stärkerer Leistungen fähig ist. Auf der 79 km messenden Strecke zwischen Beauvais und dem Pariser Nordbahnhof sind eingehende Versuche über die Schnelligkeit, Zugkraft und den Brennstoffverbrauch der neuen Lokomotive angestellt. Die Linie besitzt, besonders bei Mérn und Monsault, Steigungen von 11 – 13 ‰ und 5 – 7 km Länge. Von den leeren Dampfwagen wurden diese Steigungen mit einer Geschwindigkeit von 40 – 45  km/h bewältigt. Streckenweise wurde sogar in der Ebene eine Geschwindigkeit von 60 km/h erreicht, und zwar selbst dann, als man zwei Personenwagen angehängt hatte, wodurch der gesamte Zug ein Gewicht von 38 Tonnen erhielt; Steigungen von 8 ‰ wurden selbst bei diesem Gewicht noch mit einer Geschwindigkeit von 37 km/h befahren. Man machte am 26. Juli eine Versuchsfahrt für die Mitglieder der technischen Presse, bei welcher eine Strecke von 81 km trotz bedeutender Steigungen in weniger als zwei Stunden zurückgelegt wurde, für ein so leichtes Zugmittel ein sehr bemerkenswertes Ergebnis. Es ist sehr wohl möglich, dass sich dieses neue und wohlfeile Verkehrsmittel für verschiedene Zwecke des Eisenbahnverkehrs, denen die gewöhnlichen schweren Lokomotiven nur unvollkommen entsprechen, z. B. für leichte Extrazüge, für den Transport von Fleisch, lebenden Tieren, Milch und andern landwirtschaftlichen Produkten, endlich überhaupt auf Linien mit schwachem Verkehr, sehr bald einbürgern wird.

• Auf epilog.de am 19. Dezember 2021 veröffentlicht

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