Daseinsvorsorge
Impfung auf offener Straße
Das Neue Universum • 1899
Emma Niendorf schrieb einst: »Das Eigentümlichste und Merkwürdigste von Paris bleiben stets seine Straßen und ihr Treiben; sie sind eine große Weltausstellung, ein Theater und Gesellschaftssaal.«
Seitdem erfuhr die Weltstadt an der Seine ebenso großartige wie glänzende Umwandlungen und das bunte, rastlos bewegte Treiben in den Riesenstraßen, die Menge der mannigfaltigen, überraschenden und befremdenden Bilder hat sich bis zur erstaunlichsten Höhe und Fülle gesteigert.
Zu diesen neuzeitlichen Bildern von Paris gehört auch die Impfung auf offener Straße. Ein gesetzlicher Impfzwang besteht in Frankreich nicht. Nun gibt es aber in Paris eine Gesellschaft für öffentliche Hilfeleistung, und diese bemüht sich um die Ausbreitung des Impfens. Dabei ging sie von der Ansicht aus, dass die Impfung für jeden so leicht und bequem wie nur möglich gemacht werden müsse, und deshalb richtete sie sogar in Paris Impfungen auf offener Straße ein. Das Verfahren ist folgendes: Zu gewissen Zeiten sieht man eigentümlich eingerichtete, halboffene Sanitätswagen, an die hinten eine junge Kuh gebunden ist, sich langsam durch die Straßen bewegen. An einer der belebtesten Stellen macht solch ein Wagen Halt; einige Männer von würdigem Aussehen steigen aus, ziehen ihre Impfbestecke hervor und entnehmen direkt von der Kuh die Lymphe. Nun treten aus der vorübergehenden Menge Mütter heran, welche die Arme ihrer Kinder entblößen, auch Männer und Frauen, welche ihre Hemdärmel aufstreifen, und die Impfung vollzieht sich sofort auf der Straße, wie unser Bild es darstellt. Da diese wohltätige Einrichtung schon seit einer Reihe von Jahren in der französischen Hauptstadt bekannt ist und Beifall gefunden hat, so wird sie gern und vielfach benutzt. Die Sache geht äußerst flink vonstatten, in zwei Minuten kann man den Arm wieder bedecken. Tausende von Menschen werden alljährlich auf diese Weise geimpft, sozusagen im Vorübergehen. Wer indes in geschlossenem Raume geimpft zu werden wünscht, hat dazu in Schulen, Krankenhäusern und Kasernen Gelegenheit genug; auch dort vollzieht die oben genannte Gesellschaft die Impfung unentgeltlich.