Handel & IndustrieLebensmittelproduktion

Heringsfänger in der Nordsee

Der Stein der Weisen • 1891

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Der Reichtum an organischen Stoffen und Gebilden, den das Meer in seinem Schoss birgt, ist der ›Segen‹, der ungezählten Millionen Menschen zu Teil wird. Die Seetiere, zumal die Fische, sind den Bewohnern weiter Gebiete unserer Erde unentbehrlich; ganze Völkerschaften würden nicht im Stande sein, ohne sie zu leben, manche Staaten aufhören zu sein. Nach einer ungefähren Abschätzung leben mindestens 40 Millionen Menschen unmittelbar von den ›Ernten‹ aus dem Meer.

Demgemäß wirken auch die Ziffern, welche sich auf den ›Segen des Meeres‹ beziehen, auf den Laien wahrhaft verblüffend. Gewisse Meeresgebiete sind durch ihre günstigen Bedingungen zur Fischerei berühmt geworden, so die Bank von Neufundland, die Nordsee, die Lofoten, die Orkneyinseln u. a. Auf der ersteren versammelt sich nicht selten die größte Flotte, welche je die Welt an einem Punkt vereinigt sah, denn 5000 bis 6000 Schiffe sind keine Seltenheit. Sie tragen eine Beute heim, welche auf circa 40 Millionen Fische (Kabeljau) berechnet wird und deren Ertrag sich ungefähr auf 15 Millionen Dollars beziffert. Über die Nordsee sagt ein englischer Kommissionsbericht: »Das Deutsche Meer (so nennen die Engländer die Nordsee) ist ertragsfähiger als unser Ackerland; unsere reichsten Felder sind weniger fruchtbar an Nahrungsstoffen, als dessen Fischereigründe. Ein Morgen guten Bodens liefert etwa 20 Zentner Getreide jährlich, oder drei Zentner Fleisch und Käse; aus einer ebenso großen Wasserfläche mit Fischereigrund kann man dasselbe Gewicht von Nahrungsgehalt jede Woche (!) schöpfen. Fünf Fischerboote ernteten in einer einzigen Nacht aus einer kaum fünfzig Morgen großen Fläche des Deutschen Meeres den Wert von fünfzig Ochsen und dreihundert Schafen in Form von leicht verdaulichen und schmackhaften Fischen.«

Der oberste Repräsentant des ›Segens‹ in den europäischen Gewässern ist der Hering. Holländische Heringsfischer legten den Grund zum Reichtum und zur Größe von Amsterdam, zur Marine von Holland und zur zeitweiligen Seeherrschaft der Niederlande. Später nahmen die Norweger in der Nordsee und die Schweden in der Ostsee Teil am Heringsfang; 1781 verschiffte Göteborg noch 164 Millionen Stück.

Der Binnenländer kennt den Hering allerdings nur gesalzen, aber wahrscheinlich werden im Ganzen mehr frische als gesalzene Heringe verzehrt. »Wer jemals in Newhaven bei Edinburg im Hotel der weitberühmten Mrs. Clarke ein Fischdinner eingenommen hat, weiß, in wie vielen verschiedenartigen und immer delikateren Formen auch der frische Hering auf der Tafel erscheinen kann.«

HeringsfangHeringsfang.

Am Heringsfang beteiligen sich in erster Linie die an der Nordsee wohnenden Völker: Engländer, Schotten, Norweger, Deutsche und Holländer. Obwohl der Hering während des ganzen Jahres in der Nordsee angetroffen wird, stellt sich derselbe doch erst Mitte Juni massenhaft zuerst in den schottischen Gewässern, namentlich an den Shetlands- und Orkneyinseln ein; nach und nach zieht sich derselbe südlicher und wird zuletzt meist an der südöstlichen Küste Englands und an der westlichen Küste Hollands gefangen, bis er gegen Ende November in der Regel wieder verschwindet. Der im tiefen Wasser gefangene Hering ist der beste und wird Tiefwasser- oder Nordhering, der im flachen Wasser auf den Bänken der Nordsee gefangene Hering dagegen Sandhering und der an den Küsten gefangene Küsten- oder Strandhering genannt.

Der im tiefen Wasser gefangene Hering ist in der Regel außergewöhnlich fett und hat sogar eine Fettmasse im Inneren. Da hauptsächlich nur im Anfang der Fangzeit im tiefen, späterhin im flacheren Wasser gefischt wird, haben gewöhnlich nur die in erster Zeit gefangenen Heringe jene Eigenschaft. »… Je tiefer das Wasser, desto fester der Hering …« Über die Massen gefangener Heringe geben tabellarische Zusammenstellungen Auskunft, doch möchten wir nur einige Ziffern anführen. Im Ganzen beträgt die jährliche Ausbeute in allen Gewässern – wie Schleiden annimmt – nicht unter 10 000 Millionen, der animalische Nahrungsstoff für circa 18 Millionen Menschen. In der Ostsee werden mindestens 100 Millionen gefangen, aber Deutschland allein hat oft den Bedarf von 500 Millionen Heringen zu decken. London verzehrt jährlich über 1200 Millionen frische Heringe; England, Wales und Schottland zusammen liefern jährlich ebenso viele gesalzene.

In früherer Zeit war man der Ansicht, dass der Hering die Polargegenden bewohne und zu Zeiten große Wanderungen nach Süden unternehme; doch hat sich dies als irrig erwiesen. Zu großen Reisen besitzt der Hering gar nicht die Befähigung. Er vermöchte weder die Temperaturunterschiede zwischen nördlichen und südlichen Gewässern zu vertragen, noch sind seine Schwimmwerkzeuge darnach, große Entfernungen zurücklegen zu können. Dazu kommt, dass dieser kleine Fisch überhaupt eine sehr geringe Lebenskraft hat, und aus dem Wasser gezogen, sofort abstirbt. Deshalb sagen auch die Engländer »tot wie ein Hering«, wenn sie unser deutsches mausetot wiedergeben wollen. Ferner hat der Hering ein ungemein weiches Fleisch, feine Knochen und einen übermäßig zarten Körperbau. Im nördlichen Eismeer hausen überdies seine Todfeinde – die großen See-Säugetiere – die unter seinesgleichen in Kürze ungeheuere Verheerungen anrichten würden. Es geschieht dies ja ohnedies im Übermaße, wenn die Heringszüge in den Gewässern von Norwegen eintreffen, wo sie in den Bereich jener nimmersatten Ungetüme gelangen.

S. L.

• Auf epilog.de am 27. Januar 2024 veröffentlicht

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