Feuilleton

Eine Pariser Restauration

Die Gartenlaube • 1855

So wie man in die Vorhalle der neue Restauration in der Rue de Montesquieu tritt, erhält man von einem Beamten (es ist hier alles wie in einer großen Administration eingerichtet) eine gedruckte Speisekarte, aus welcher die zu habenden Gerichte und Getränke mit Angabe der Preise verzeichnet stehen. Man ist über die Billigkeit erstaunt und geht an ein paar Tischen, auf denen das rohe Fleisch erster Qualität ausgestellt ist, vorbei in den Speisesaal. Dieser bietet nun einen äußerst interessanten Anblick dar. Rechts und links lange Reihen kleiner Marmortische, ringsherum breite Galerien, auf denen ebenfalls gespeist wird. In der Mitte des Saales selbst stehen zwei große offene Dampfküchen, deren ökonomische Einrichtungen und Sauberkeit bewundernswert ist. Sehr anständig gekleidete Frauen von seltener Reinlichkeit holen aus den ungeheuren Töpfen die Speisen und die Stücke Fleisch heraus, schneiden ab, und man hat hier den Vorteil, der einem in Paris nicht immer zu Gebote steht: zu sehen, was man eigentlich isst. Sobald man eine Speise bestellt hat, macht der Kellner auf die Speisekarte, die man von der Tür mitbrachte, ein Kreuz. An jedem Marmortische ist eine aufrechtstehende Röhre angebracht, an welcher sich zwei Drücker befinden. Aus diesen Röhren, die unter den Tischen fortlaufen, strömt so viel Selterwasser als man trinken will und für das Recht, diese Röhren bei Tische zu benutzen, bezahlt man bei der allgemeinen Rechnung zwei Sous. Ist man mit Essen fertig, so geht man mit seiner Karte hinaus. Man kommt von selbst an den Tresen vorbei, an denen mehrere Damen sitzen, welche im Nu die Rechnung, die man mit der Karte ja selbst präsentiert, zusammen addieren. Hat man gezahlt, so erhält man die Karte zurück, und gibt sie beim Herausgehen einem Kontrolleur ab. Trinkgeld an den Kellner wird nicht verabreicht. Alle Speisen sind einfach zubereitet, aber äußerst geschmackvoll, und in keiner Restauration kann man besseres Fleisch essen, als hier. Anderthalb Francs sind zu einem Diner genügend. Der Erfolg dieses Etablissements ist so außerordentlich groß, dass zwischen sechs und sieben Uhr in der Regel 800 Personen auf einmal in dem Saal essen, so dass man für kurze Zeit die Gitter schließen muss.

Entnommen aus dem Buch:
Die ›Zeitreisen‹ knüpfen an die Tradition der Jahrbücher und Zeitschriften ›zur Bildung und Erbauung‹ aus dem 19. Jahrhundert an. Eine bunte Auswahl von Originalartikeln begleitet den authentischen und oft überraschend aktuellen Ausflug in die Geschichte. Kultur- und Technikgeschichte aus erster Hand, behutsam redigiert, in aktueller Rechtschreibung und reichhaltig illustriert.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 124 Seiten | ISBN: 978-3-7543-5702-6

• Auf epilog.de am 9. März 2022 veröffentlicht

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