Verkehr – Schifffahrt
Die neue Landungsbühne vor Liverpool
Die Gartenlaube • 1858
Die Engländer haben für ihren fehlenden Formen- und Schönheitssinn die Leidenschaft für unförmlich Großes und Ausgedehntes, worin so manche Fehler verschwinden, da das Große immer imponiert, wenigstens der großen Menge, die auch durch ihre unfassbare Vielheit groß ist. Wie jeder Rock jedem Engländer zu weit ist, macht man auch alles Andere so zu sagen ›auf Zuwachs‹. Der Rock, der Backenbart, London, die Kolonien, das Parlamentsgebäude, der Leviathan, der atlantische Telegraf etc., alles ist imposant durch seine Größe und ›sitzt‹ nicht. Die neue Landungsbühne vor Liverpool ist vielleicht nicht zu groß für ihren Zweck, da für den Meeresverkehr Liverpools in dem 23 km umfassenden engeren Hafen voller Mastwald sobald nichts zu groß sein kann; aber sie ist imposant und passt wenigstens nicht. Er ist 310 m lang und 26 m breit, also ein schwimmendes Verdeck, über 100 m länger, als das auf dem doppeleisernen Riesen Leviathan, sehr lang, aber nun doch eigentlich zu kurz, wenigstens in den Verbindungsbrücken, die während der Ebbe so steil hinunter und hinauf führen, dass Niemand ohne Leiter passieren kann. Da nun aber viel Vieh über die Brücken passieren soll und fette Ochsen in gymnastischen Künsten wenig leisten, studiert man jetzt über Mittel, sie in die Höhe zu ziehen. Das erinnert an unsere lieben, getreuen Schildbürger, denen Gras auf der Stadtmauer wuchs, das sie dem Gemeindeochsen nicht vorenthalten wollten, so dass sie ihm ein Seil um den Hals warfen und ihn hinaufzogen. Es schmeckte ihm schon unterwegs, so dass er die Zunge heraussteckte. »Seht, es schmeckt ihm schon!«, rief der Bürgermeister, der scharfsinnigste aller Schildbürger.
Aber wir sprachen von der riesigen, schwimmenden Landungsbühne im Welthafen Liverpools. Sie kostet bis jetzt 140 000 Pfund, also rundgenommen eine Million Taler, ein schönes Stück Geld, und ist ein Vorposten des ungeheueren, hohen, festungsartigen Princeß-Pier’s (Landungsplatzes), von welchem vier große, bewegliche Brücken hinunterführen, damit sich die Bühne mit der Flut heben, mit der Ebbe gelenkig senken kann. Die Bühne selbst ist also eine auf dem Meer schwimmende Ebene, auf 63 rechtwinkeligen Pontons ruhend, die fest aneinander gekettet und so gefesselt sind, dass sie sich nur an Ort und Stelle mit Flut und Ebbe heben und senken können und ihre Verbindung mit dem großen Pier durch die beweglichen Brücken immer sicher bleibt. Aber diese Brücken sind für die Ebbezeit zu kurz geraten, so dass Niemand mit schwerem Gepäck auf- und absteigen, geschweige, große Lasten und Vieh transportieren kann. Der Ingenieur des kolossalen Baues will nun deshalb eine Art Dampfrutschbahn auf den Brücken anbringen und Vieh und Menschenkind mit Dampf hinauf- und herunterrutschen lassen, aber Sir William Cubitt, wie der Mann heißt, weiß noch nicht, wie das eigentlich anzufangen sei. Er hat gesagt: entweder durch eine fixe Lokomotive die Ketten, an welchen die Rutschwagen hängen, auf- und abwickeln, oder durch hydraulische Presse, die mir einen sehr hinderlichen und kostbaren Presszwang einzuschließen scheint. Die Bühne wiegt 4000 Tonnen und ist von Thomas Vernon und Sohn in Liverpool gebaut worden. Die Brücken wurden in der Maschinenbauanstalt von Fairbairn in Manchester gegossen. In Deutschland und anderswo hätte man sich vielleicht erst die Ebbe und die schiefe Ebene, die dann von den Brücken für eine bestimmte Entfernung gebildet worden sein würde, angesehen und probiert, ob man darauf passieren könne; in England machte man die Sache erst fertig und sieht es sich nun in voller Wirklichkeit für eine Million Taler Entree an. So muss man es machen, wenn man eine ›praktische‹ Nation heißen, und von der Cölnischen Zeitung und Allen, die auf ähnlicher Höhe der Bildung stehen, angebetet sein will. Mit der ungeheueren Landungsbühne haben sie bis jetzt ein Hindernis des Landens geschaffen; früher stieg man direkt den Princeß-Landungsplatz hinauf und wand die Lasten direkt auf und ab. Jetzt muss alles erst auf die Bühne und seine Rolle spielen, Vieh nicht ausgenommen, wie die armen Deutschen, welche mit der ›Allgemeinen Dampfschifffahrtsgesellschaft‹ (›General Steam Navigation Company‹) mit dem ›John Bull‹ oder ›der City of Hamburg‹, oder der ›Caledonia‹, oder dem ›Pilot‹, oder der ›Germania‹ oder der ›Counteß of Landsdale‹ von Hamburg in London ankommen, in der Mitte der Themse halten müssen, um in die Hände der berüchtigten Themse-Räuberbande zu fallen, aus deren Gefangenschaft sie sich oft für einen Preis lösen müssen, der die Reisekosten verdoppelt.
Das Schiff hält mitten auf der Themse, die Kompanie hat ihr Geld und überlässt nun diese Deutschen (kein Einziger der Schiffsmannschaften kann ein Wort Deutsch) sich selbst und den Themse-Räubern, die mit ihren Kähnen herankommen und einen Passagier nach dem andern mit Gepäck hineinlocken. Ehe sie mit ihren Opfern landen, pressen sie ihnen zum Teil enorme Preise für den Katzensprung weit ab, 2–3 Taler, Gepäck extra. Das ›Gesetz‹ erlaubt dieser ›Wassermann-Bande‹ 6 Pence à Person, aber Niemand vom Schiffe oder vom Lande aus unterrichtet sie davon oder steht ihnen bei gegen die geschäftsmäßig getriebene räuberische Erpressung. Da dieselbe Compagnie auch von andern Häfen, von Rotterdam, Boulogne, Havre, Antwerpen, Calais den Dampfschiffverkehr mit London in den Händen hat, machen wir betreffende Herrschaften, die von oder nach London reifen wollen, auf diesen Umstand aufmerksam, mit dem Rat, sich nur zu 3, 4 oder 5 Personen den Themsekähnen anzuvertrauen, à Person 6 Pence nach der Landung zu zahlen und jeden Raubanfall, jede Weigerung zu landen, durch sofortiges Anpacken zu erzwingen. Für Diebstähle ihrer eigenen Leute auf ihren Schiffen ist die Kompanie nicht verantwortlich, wie Schreiber dieses aus speziellen Fällen und durch Korrespondenz mit der gewaltigen Kompanie spezifizieren kann. Auch dies mag man sich merken, ehe man sich der gebildetsten, reichsten und nobelsten Nation mit Gut und Leben anvertraut.