Verkehr – Schifffahrt
Die Hafenstadt Southampton
und seine Flut-Docks
Die Gartenlaube • 1855
Southampton war schon viel früher, als sein mächtiger Nachbar Portsmouth, eine der wichtigsten Städte England. Es ist vielleicht so alt als London, wo man jetzt unter den Gräbern von mehreren Hundert Generationen hervor Denkmäler alter, vorchristlicher Römerherrschaft und unter denselben vermorschte Waffen und Schädelstücke der vor den Römern herrschenden Urbriten hervor gräbt und in Museen sammelt. Unter der Römerherrschaft war es ein wichtiger Hafen. Und als die Dänen England eroberten, hatten sie den Schwerpunkt ihrer Macht in Southampton, nachdem sie es im Jahr 873 genommen. Es war ein Lieblingsaufenthalt Kanuts des Großen, der hier einmal seine Höflinge furchtbar heruntergemacht haben soll, dass sie ihm keine absolute Gewalt über die Wogen des Meeres verschaffen könnten. Kanut wird sich inzwischen vielleicht zufriedengegeben haben: Brachten es doch die Diener absoluter Herren bis heute noch nicht so weit. Southampton war eine Zeit lang ein viel bedeutenderer Handelsplatz als London, nämlich solange als Winchester, jetzt eine harmlose Landstadt etwas weiter landeinwärts, Hauptstadt Englands war. Es blühte unter verschiedenen Handelsmonopolen als der Haupt-Hoflieferant vom Ausland, besonders von Weinen, Seide, Stickereien und Spitzen und Borden aus dem damals welthandelnden Genua, wofür es einheimische Produkte ausführte. Nachdem König Heinrich IV. dessen Monopole aufgehoben, zog sich der Welthandel Englands in die Hauptstadt London zusammen, das sich seitdem zum eigentlichen merkantilen Herzen der ganzen Erde erweiterte. Als nun noch im Jahr 1665 die große Pest alle Reichen vertrieb und die zurückgebliebenen Bewohner zur größeren Hälfte dahinraffte, sank Southamptons Herrlichkeit vollends in Schutt und Staub.
Doch die Lage an einem der besten Häfen im Angesichte des atlantischen Oceans, vor dessen gröbsten Launen es außerdem durch die prachtvolle Insel Wight geschützt ist, war eine zu vorteilhafte, als dass es nicht wieder hätte aufleben sollen, als die strotzende, schwellende Industrie Englands und seine dampfbeschwingten Land- und Meeresarme nach allen Seiten hin ausgriffen und Leben holten und gaben. Die große Südwesteisenbahn Londons erhob Southampton zu einem Haupthandelsarme der Weltstadt, und mit dem Erscheinen der Dampfkraft auf den Ozeanen ward es von der Regierung zum Meeres-Postbüro für das Mittelmeer, West-Indien und Südamerika ausersehen. Jetzt pulsiert es in regelmäßigen, kräftigen Schlägen eine fortwährende lebendige Verbindung mit London, Spanien, Portugal, Malta, Ägypten, den ionischen Inseln, der Türkei, der Krim, mit den Westindischen Inseln, Brasilien usw. und ist seitdem in drei- und vierfacher Lebenskraft aus seinem Grab erstanden. Bewegliche und feste Dampfschlotte schicken nach allen Richtungen der Windrose lange, starke Schlangen von Dampf- und Rauchwolken, und selbst dem gewaltigen Ozean, an dessen Fuß der große Kanut sich über seine beschränkte Herrscherhand ärgerte, hat man bedeutende Stücke Landes abgerungen, so dass er mit jeder Flut in neuer ohnmächtiger Wut die Armeen seiner Wogen zum Sturm der Festungstore heranwälzt, die dann so lange eifrig an den Toren rütteln und darüber hinwegzuspringen oder wenigstens zu sehen und Wasser hinüber zu spritzen suchen, bis sie ihr Oberkommandeur, der Mond, der sich fortwährend damit beschäftigt, Ozeane in Ebbe und Flut hin und her zu schaukeln, zurück treibt, damit sie die Nachhut für die Flut auf der andern Seite bilden. Also die auferstandenen Southamptoner haben dem Meere Land abgenommen, während es hier ebben musste, um auf der andern Erdhalbkugel zu fluten.
Die Längenangaben und andere Maße des Originaltextes wurden in das metrische System umgerechnet.Die großen Ozean-Dampfer brauchten nach ihren anstrengenden Reisen Herbergen und Ruhestätten, die ihnen das Meer nicht gönnen wollte. So baute man an den reizenden Gestaden hin Docks und neuerdings Flut-Docks. Man schloss zunächst 210 Morgen Landes seewärts gegen das Meer durch über 1 km lange Bollwerke ab. Von diesen Bollwerken gehen die Weltmeerdampfer ab, nachdem sie innerhalb derselben in vier großen, ruhigen Wasserbetten (Docks) neue Kräfte gesammelt haben. Aber die Ungeheuer bedürfen einer dicken, gesunden, heilen Haut, um ihrer inneren Kraft froh zu werden. Deshalb lassen sie sich gern vor der langen Reise von außen und unten besehen, ob das tückische Meer keine Achillesfersen ausfindig machen könne. Zu diesem Zweck muss man die Meeresfestungen aufs Trockne bringen und gleichsam über sich hin in die Luft halten, ob auch der Himmel nicht durchscheine. Dies vermögen aber Menschenarme, selbst mit Flaschenzügen nicht, weder mit mechanischen, noch den vom Schenkwirt besorgten. So benutzte man die Mondsucht des Meeres, um die Schiffe in die Flut-Docks hineinzutragen, das Wasser mit der Ebbe dann ablaufen zu lassen und ihm die Tore zu schließen, so dass es während der nächsten Flut in ohnmächtiger Wut draußen fluten und fluchen muss, bis man so gefällig ist, ihm die Tore wieder zu öffnen, aber bloß, damit es als gehorsamer Diener das Schiff wieder auf die Schultern nehme und säuberlich hinaustrage. Die Flut-Docks von Southampton Solche Flut-Docks hat man bereits mehrere gebaut, das jetzige aber, welches von zwei großen Dampfschiff-Kompanien konstruiert und hier in seiner dem Meer zugewandten Hälfte durch Abbildung anschaulich gemacht wird, übertrifft alle bisherigen Wasserbauten an Größe und praktischer Fügung. Es hat eine Länge von 130 m und eine Breite von 27 m in der Mitte. Die Fluttore, welche das Meere ausschließen, bilden geöffnet einen Eingang von 24½ m Fuß Breite. In dieser bedeutenden Ausdehnung halten sie, geschlossen, den Druck des ganzen Ozeans zurück, und verziehen keine Miene, so haushoch sich der Herr, dem bekanntlich drei Viertel der ganzen Erdoberfläche gehören, auch an ihnen in die Höhe bäumt und sich die verzweifeltste Mühe gibt, sie aus den Angeln zu heben und sich das bisschen geraubte Land wieder zu nehmen.
In diesem neuen Flut-Dock werden die größten Meeresdampfungeheuer, wie der Himalaya und selbst der Wellington, ein bequemes, trockenes Bett finden, obgleich sie sich mit ihrem Kiele auf die lange harte Kante von Eisen-Quadraten, die wir in der Mitte angedeutet finden, legen müssen. Aber sie sind in dieser Beziehung nicht verwöhnt und schlafen hier besser, als wir zwischen Daunen. Leer sieht das Bett aus wie ein fünf Stockwerk tiefes ungeheures Grab, wie eine Mulde, eine Wanne, turmhohe Riesen darin zu baden. Von seinen Rändern oben genießt man die herrlichsten, großartigsten Naturscenen, zwischen denen Industrie und Handel in atemloser, tausendarmiger Kunst und Kraft sich hin und her bewegen. Die großen, dampfenden Boten, die fortwährend aus fernen Weltteilen heranbrausen und abgehen, erweitern die Seele über die Erde hin und erwecken stolze Ahnungen von der Weltteile verbindenden, Völker bildenden und versöhnenden Kulturgewalt des erdumgürtenden Verkehrs und Handels – in der Zukunft, die unsere Kinder und Enkel als schöne Wirklichkeit begrüßen wird.