Verkehr – Eisenbahn
Die elektrische Eisenbahn in Berlin
Das Neue Universum • 1880
Unter den industriellen Neuschöpfungen, die auf der großen Berliner Industrie-Ausstellung im Sommer 1879 zu sehen waren, erregte keine mehr allgemeines Interesse, wie die elektrische Eisenbahn von Werner Siemens in Berlin; es ist aber auch keine Verwendung der Elektrizität von größerer Tragweite, als diese Erfindung und deren Übertragung in die praktische Anwendung. Dr. Werner Siemens, unser berühmter Landsmann, hat dadurch seinen zahlreichen Entdeckungen und Erfindungen auf dem Gebiet der Elektrizität die Krone aufgesetzt.
Die elektrische Eisenbahn in Berlin von Dr. W. Siemens.Unser Bild gibt auch demjenigen, der die kleine Bahn nicht in Betrieb gesehen hat, eine klare Vorstellung von dem, um was es sich handelt. Eine kleine Lokomotive ohne Dampfkessel, ohne Feuer und Rauch oder Dampf zieht drei sechssitzige Personenwagen. Der kleine Zug kann anhalten, schneller oder langsamer fahren ganz nach dem Belieben des Führers. Die Räder rollen wie gewöhnlich auf Schienen, nur fällt auf, dass zwischen denselben noch eine Eisenstange liegt. Mit dieser kleinen Bahn von etwa 300 m Länge wurden innerhalb des Berliner Ausstellungsraums während des Sommer 1879 über 100 000 Menschen mit einer Geschwindigkeit von 3 – 4 m in der Sekunde befördert.
Seitenansicht des WaggonsDie bewegende Kraft dabei ist Elektrizität, die in Magnetismus, und dann wieder in Bewegung umgesetzt wird. Die Elektrizität wird erzeugt durch eine ebenfalls von W. Siemens schon 1866 erfundene und unterdessen sehr wesentlich verbesserte sogenannte dynamoelektrische Maschine, die feststeht und durch eine Dampfmaschine in Umdrehung versetzt wird. Eine ähnliche Maschine befindet sich in der Lokomotive. Die Magnete in derselben werden in Umdrehung versetzt, wenn die Elektrizität von der feststehenden Maschine durch den zwischen den Schienen isoliert liegenden Eisenstab zugeleitet und durch die mit den Schienen in Berührung befindlichen Räder wieder zurückgeleitet wird. Vorderansicht der Lokomotive und der Konstruktion des Gleises. Die Achsendrehung der Magnete trägt sich aber über auf die Räder der Lokomotive und bewegt diese und den ganzen Zug. Damit die Bewegungs-Elektrizität in dauernder Verbindung mit den Teilen der Lokomotive bleibe, ist an dieser zwischen den Rädern eine Metallbürste, welche auf dem Eisenstab zwischen den Schienen hinschleift und die Elektrizität nach den Magneten hinleitet.
Die feststehende magnetelektrische Maschine verbraucht also die von einer Lokomobile hervorgebrachte Kraft zur Erzeugung von Elektrizität und diese bringt dann wieder eine bewegende Kraft in der zweiten auf den Schienen rollenden elektromagnetischen Maschine hervor.
Die praktische Verwendbarkeit dieses wissenschaftlichen Prinzips ist durch den Berliner Versuch zur Genüge erwiesen. Längsschnitt der Lokomotive Trotz der an sich ungenügenden Isolierung der Mittelschiene konnte die Berliner elektrische Eisenbahn von W. Siemens selbst bei Regenwetter den Anforderungen der zudringenden Passagiere begnügen.
Allerdings geht bei der Übertragung etwa die Hälfte der ursprünglich erzeugten Kraft verloren. Aber anderseits sind die Vorteile so groß, dass namentlich für bestimmte Zwecke diese elektrische Ortsbewegung außerordentliche Vorteile darbietet.
Der Erfinder denkt zunächst an die Verbesserung des Briefpostverkehrs, der in Berlin durch die Rohrpost nur auf kleine Strecken versehen werden kann, und hat statt deren oder zur Ergänzung und Ausdehnung derselben den Plan einer elektrischen Post vollständig ausgearbeitet.
Die elektrische Bahn im BetriebDer Straßenverkehr in großen Städten wächst von Jahr zu Jahr und hat schon jetzt vielfach eine kaum mehr durch die seitherigen Einrichtungen zu bewältigende Ausdehnung gewonnen. Pferdebahnen, unter- und überirdische Eisenbahnen müssen zu Hilfe genommen werden, immer aber nur auf den Hauptverkehrslinien. Der Lokomotivbetrieb auf Pfeilerbahnen wird für die Straßenbewohner durch das Rasseln und Pfeifen und den Rauch unerträglich; dabei ist diese Verkehrs-Einrichtung durch den massiven Bau sehr kostspielig und platzraubend. Hier hat die elektrische Bahn von Siemens offenbar eine glänzende Zukunft, namentlich zunächst für Berlin in Verbindung mit den einzelnen Stationen der Stadtbahn.
Jedenfalls stehen wir durch die geschilderte neue Erfindung von Werner Siemens am Beginn einer Verkehrs-Revolution, die ebenso tief in den Kleinverkehr eingreifen wird, wie die Lokomotivbahnen in den Großverkehr.