FeuilletonLand & Leute

Der Obst- und Gemüsemarkt
am ›Schanzl‹ in Wien

Die Abendschule • 7.2.1879

Die Kaiserstadt an der Donau hat dermalen mehr als 900 000 Einwohner, deren Lebensmittel-Verbrauch denn auch ganz ungeheuer ist, und unter die merkwürdigsten Sehenswürdigkeiten Wiens gehören daher vor allem seine Märkte, auf welchen aus weiter Umgebung die verschiedenen Produkte zusammenströmen und wo der Fremde nicht nur die unerschöpfliche Fülle von herrlichen Erzeugnissen des fruchtbaren Bodens Österreichs und seiner Kronländer, sondern auch die größte Mannigfaltigkeit von Volkstrachten aus allen Gegenden und Provinzen der Monarchie sehen kann.

Keiner der bedeutendsten, aber einer der interessantesten Märkte unter diesem Gesichtspunkt ist der Gemüse- und Obstmarkt am ›Schanzl‹ am Ufer der Wien, welcher zu jeder Tages- und Jahreszeit ungemein belebt ist, aber namentlich im Spätsommer und Herbst einen Besuch verlohnt, damit man sich einen Begriff mache von der wuchernden Fruchtbarkeit Österreichs, wie von der Schönheit und Mannigfaltigkeit der hier zu Markte kommenden Produkte. Die Bauern von Marchfeld bringen hierher ihre Gemüse- und Wurzelgewächse; aus dem fetten Boden der Hanna kommen Rüben, Rettiche, Gurken und Kohl, Ungarn liefert köstliche Zucker- und Wassermelonen, Oberösterreich prachtvolles Kern- und Stein-Obst, Niederösterreich köstliche Weintrauben, Pfirsiche, Walnüsse und Äpfel, Steiermark Nüsse und Birnen, Böhmen ungeheure Mengen von Zwetschen und Pflaumen. Kartoffeln aus den verschiedensten Gegenden wetteifern untereinander in Güte, Schönheit, Größe, Mannigfaltigkeit der Sorten etc., und die Auswahl in den verschiedenen Kohlarten und Salaten ist geradezu fabelhaft.

Alle diese Waren kommen in niedrigen Kähnen zu Markte, welche in der Mitte zwei Zwischenwände haben, wo die rudernden Verkäufer eben nur Raum zum Sitzen haben; Bug und Stern des Kahns sind bordvoll mit der Marktware beladen, die hier zumeist im Großen an die Fratschlerinnen (Höckerinnen), die Zwischen-und Kleinhändler verkauft wird, welche sich denn vom frühen Morgen bis zum Abend mit ihren Schieb- und Hundekarren einfinden, um ihre Einkäufe unter eifrigem Feilschen zu machen. Zur Zeit des frischen Beerenobstes, der Kirschen, Pflaumen, Zwetschen usw. finden sich aber auch eine Menge Leute aus allen Ständen und Altersklassen hier ein, welche sich um billigeres Geld an dem frisch angekommenen Obst gütlich tun wollen, und selbst die elegante Welt verschmäht es nicht, hier Obst frisch an der Quelle zu verspeisen, während Soldaten und ärmere Leute die stets bereiten Abnehmer und Konsumenten für das durch den Transport etwas gequetschte oder unscheinbar gewordene Obst sind, das ja in großen Städten für manchen ein seltenes und teures Labsal ist. Da man annimmt, dass die am ›Schanzl‹ selbst stationierten ›Fratschlerinne‹ immer mit dem frischten und besten Obst versehen seien, so sind die Buden derselben ein besonderer Anziehungspunkt für die Kindermädchen und die Mütter aus dem Mittelstand, welche ihren Kindern eine frische ›Jause‹ von Obst reichen wollen, und ein Spaziergang nach dem ›Schanzl‹ ist für die Kinder des Bürgerstandes immer eine Art Festtag.

• Auf epilog.de am 7. März 2023 veröffentlicht

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