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Das Trambahnbillett

Plauderei von Dr. Ernst Franck

Die Woche • 28.10.1911

Voraussichtliche Lesezeit rund 5 Minuten.

Der Herbst, der uns Regen und Kälte, feuchten Straßenasphalt und eisige Winde beschert, führt regelmäßig auch eine gesteigerte Frequenz der Trambahnlinien mit sich. Es nahen die Abende wieder, wo wir verzweifelnd an den Haltestellen stehen und die Schaffner uns von jedem höhnisch vorüberrollenden Wagen aus ein niederschmetterndes »Besetzt!« zuschleudern. Oder wo wir, eng und unbehaglich aneinandergedrückt, zwischen triefenden Schirmen und peinlichen Regendunstwellen im überfüllten Wagen unserem Ziel zugleiten, ohne jeweils durch die beschlagenen Fenster hindurch feststellen zu können, wo wir augenblicklich sind. In solchen Zeiten gewinnt das unscheinbare Trambahnbillett wieder eine erhöhte Bedeutung für uns.

Es mag heute noch kleine Städte geben, die, wie früher auch größere, das Trambahnbillett nicht kennen. Da wirfst der Fahrgast seinen Groschen in eine Büchse, die an der Tür zum Vorderperron angebracht ist, und ein Klingelzeichen gibt dem Wagenführer Kunde, dass ein neuer Passagier mit der Pferdebahn – denn meistens ist es noch eine Pferdebahn – ein Zehnpfenniggeschäft abgeschlossen hat. Auch im Ausland ist diese Zahlungsweise hier und da gebräuchlich. Sie ist nicht unpraktisch, denn die Verwaltung spart dadurch Personal und Druckkosten, und das Publikum kontrolliert sich selbst in mustergültiger Weise. Wer die Bezahlung vergessen oder unterlassen sollte, würde sehr bald nachdrücklich daran gemahnt werden. In den deutschen Großstädten aber haben wir ausnahmslos das Trambahnbillett, und man sieht dem kleinen weißen oder farbigen Blättchen und Kärtchen nicht an, was für Verwirrungen es stiften, was für Schicksale es haben kann.

Die erste Verwirrung, die es anzurichten vermag, tritt schon dann ein, wenn es vom Kartenblock des Schaffners in die Hand des Fahrgastes übergeht. Es ist bekanntlich manchmal leichter, fünftausend Mark zu leihen, als sich einen Taler auszuborgen. Es ist, kann man ebenso sagen, oft schwieriger, einen Groschen herzugeben, als etwa zwanzig Mark zu bezahlen. Die Fälle, in denen der Fahrgast nur ein Goldstück oder einen Fünfzigmarkschein hat und der Schaffner nicht wechseln kann, sind für die Mitpassagiere oft eine Quelle dramatischer Spannung, lehrreicher Betrachtungen, schlecht verhehlter Schadenfreude. Zwar finden sich fast immer menschenfreundliche Seelen, die dem unglücklichen Fünfzigmarkscheinbesitzer auf sein ehrliches Gesicht und seinen Fünfzigmarkschein hin einen Groschen leihen, zumal wenn der Betreffende eine hübsche junge Dame ist. Aber peinlich bleibt dieses kleine Pumpgeschäft für beide Teile; für den Geber besonders deshalb, weil er um einer Bagatelle willen Namen und Adresse angeben soll, um in den nächsten Tagen eine Postanweisung über zehn Reichspfennig zu erhalten. Oder nicht zu erhalten, denn auch das kommt vor. Merkwürdigerweise sind es meistens Damen, die das kleine Geld für ihr Trambahnbillett nicht bei sich führen. Ein Psychologe hat behauptet, das käme daher, weil Frauen ungern einen größeren Geldschein oder ein Goldstück ›anbrechen‹; wie sie auch gern zögern, ein neues Dutzend Tischtücher, die nächste Flasche Vanillelikör, die zweite Geburtstagstorte, die letzte Dose Ölsardinen anzubrechen. Vielleicht fürchten sie, dass das Angebrochene rascher zu Ende geht, weil es nun doch schon einmal angebrochen ist; vielleicht auch kommt ihnen ein Zwanzigmarkstück wie eine größere Summe vor als zwanzig einzelne Markstücke. Fantasiebilder pflegen den weiblichen Geist ja lebhafter zu beeinflussen als logische und rechnerische Überlegung.

Was macht man nun mit dem Trambahnbillett, wenn man es mit dem eigenen oder geliehenen Groschen bezahlt hat? Man steckt es in die Tasche? Ja, wenn das so einfach wäre! Ich wette, dass keine fünf Prozent der Fahrgäste das Billett in die Tasche stecken, von denen abgesehen, die an ihrer Garderobe ein Billetttäschchen haben und es gewohnheitsmäßig dort unterbringen. Die anderen platzieren es überall, nur nicht in der Tasche, die am Damenkleid ja überhaupt noch immer ein frommer Wunsch ist. Sie platzieren es im Handschuh, im Knopfloch, im Schirm oder im Ärmelaufschlag, im Gürtel oder unter dem Uhrdeckel. Manche schieben es unter den Trauring oder ins Hutband, andere drehen es wie eine Zigarette und stecken es zwischen die Lippen. Hier legt es einer als Lesezeichen in das Buch, das er in der Trambahn liest, und dort behält es ein ganz Vorsichtiger während der längsten Fahrt in der Hand. Die Damen haben ja meist ihr Handtäschchen bei sich und heben in dem darin befindlichen Portemonnaie oft auch das Trambahnbillett auf.

Unangenehm ist es, wenn man das Trambahnbillett so gut aufhebt, dass man es nicht wiederfindet, wenn der Kontrolleur erscheint. Da kann es manchem gehen wie dem Mann, der seine Brille sucht, weil er sie auf die Stirn geschoben hat, oder der seine Gummischuhe nicht finden kann, weil er sie gar nicht von den Füßen gestreift hat. Ein amerikanischer Humorist machte sich einmal das Vergnügen, das Trambahnbillett, das er soeben gelöst hatte, zum Fenster hinausflattern zu lassen. Er musste natürlich sofort ein Billett nachlösen, das den gleichen luftigen Weg nahm. Das wiederholte sich noch einige Mal, bis man ihn für einen Narren hielt und gewähren ließ. Er aber machte aus diesem kleinen Erlebnis und dem Verhalten des Schaffners und des Publikums eine seiner lustigsten Geschichten.

Bedenklich ist die Angewohnheit mancher Menschen, die abgefahrenen Trambahnbillette mit sich in der Tasche herumzuführen. Kommt dann der Kontrolleur, so kostet es ärgerliche Mühe und Zeit, um den richtigen Fahrschein aus der Handvoll zerknüllter, zerrissener, zusammengekniffener Zettel herauszufinden. Ich erlebte kürzlich, wie ein junges Mädchen dem Kontrolleur ein falsches Trambahnbillett vorwies und steif und fest behauptete, es vorhin vom Schaffner erhalten zu haben. Dieser bestritt es energisch, und auf sein dringendes Verlangen durchsuchte sie ihr Handtäschchen. Da fand sich denn auch wirklich das richtige Billett. Das kleine Fräulein wird sich die ernsten Worte des Schaffners: »Wenn man Ihnen mehr geglaubt hätte als mir, wäre ich in vierzehn Tagen entlassen worden«, gewiss gemerkt haben und künftig mehr auf das Wegwerfen verbrauchter Trambahnbillette bedacht sein.

Denn das ist ja das Schicksal dieser kleinen bunten Blättchen und ihre letzte Bestimmung: schließlich weggeworfen und in Staub und Schmutz getreten zu werden. An den Haltestellen der Trambahn sieht es manchmal aus, als hätte Prinz Karneval hier eine besondere Sorte seiner farbigen Konfetti ausgestreut. Auch Trambahnbillette werden freilich gelegentlich gesammelt – was wird denn nicht gesammelt! – wenn es auch Sage ist, dass die Chinesen sich ihre Zimmer damit tapezieren. Da manche Städte die Rückseite ihrer Trambahnbillette zu Reklamezwecken vermieten und der kommunale Geldbeutel dabei nicht schlecht fährt, so verstärken mitunter dort annoncierende Firmen die Wirkung ihrer Reklame dadurch, dass sie Prämien für die aussetzen, die ihnen bis zu einem bestimmten Termin die meisten mit ihrem Firmennamen versehenen Trambahnbillette einliefern. Da wird denn aufs eifrigste gesammelt, unter Bekannten sowohl wie – an den Haltestellen. Sodann aber ist das Trambahnbillett auch ein Objekt für den Sammelsport um seiner selbst willen. Ich sah einmal eine solche Sammlung von Trambahnbilletten, die der Liebhaber aus aller Herren Ländern zusammengetragen hatte. Originell waren die Miniaturfahrscheinchen nordischer Städte und die grellfarbigen Blättchen aus manchen südlichen Ländern. Aber viel Freunde scheint dieser Sport nicht zu haben. Das Trambahnbillett ist zwar ein ganz interessantes Dokument des modernen Verkehrslebens, aber es hat, im Gegensatz etwa zu der Briefmarke, wenig Seele, und so geht es ihm wie anderen seelenlosen Dingen auch: wenn es seine Schuldigkeit getan hat, wird es achtlos weggeworfen.

• Auf epilog.de am 19. Februar 2024 veröffentlicht

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