VerkehrSchifffahrt

Der Welland-Kanal, ein Seekanal im Binnenland

Zentralblatt der Bauverwaltung • 24.12.1881

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Ein Beispiel für die Herabminderung der Frachtsätze mit solchen Wasserstraßen, welche Schiffen von sehr bedeutender Tragfähigkeit den Durchgang gestatten, liefert die allmähliche Entwickelung des Welland-Kanals, der die großen Binnenseen Nordamerikas mit dem Ontariosee und dessen Ausfluss, dem St. Lorenz-Strom verbindet. Der Höhenunterschied zwischen dem Spiegel des Ontariosees und dem mittleren Meereswasserstand beträgt nach dem Scientific American 71,5 m. Der Eriesee liegt dagegen 172 m über dem Meeresspiegel. Die Verbindung zwischen beiden Seen wird durch den 48 km langen Niagarafluss bewirkt, dessen bedeutendes Gesamtgefälle (100,5 m) größtenteils in dem weltberühmten Wasserfall und den dicht ober- und unterhalb desselben gelegenen Strudeln vereinigt ist.

Der St. Lorenz-Strom ist zur Großschifffahrt vortrefflich geeignet. Die an mehreren Stellen befindlichen Stromschnellen werden durch kurze Schleusenkanäle umgangen, deren ganze Länge nur 70 km beträgt, während die Länge des Stromlaufs zwischen dem Ontariosee und der Mündung rund 1200 km misst. Bis Montreal können jetzt bereits große Seeschiffe gehen. Wenn die zur Umgehung der Stromschnellen angelegten Schleusenkanäle, welche gegenwärtig nur für Schiffe von 3 m Tiefgang passierbar sind, auf 4,5 m vertieft und erweitert werden, so können mittelgroße Dampfboote aus den europäischen Häfen unmittelbar bis in den Ontariosee gelangen. Einer der erwähnten Schleusenkanäle ist bereits auf die erforderlichen Abmessungen gebracht worden, die anderen werden im Laufe der nächsten Jahre zum Umbau kommen. Der schwierigste und kostspieligste Teil der von der kanadischen Regierung ins Leben gerufenen Seeschifffahrts-Verbindung der Binnenseen mit dem Atlantischen Meer, der Übergang aus dem Erie- in den Ontario-See ist im Oktober 1881 durch Fertigstellung des neuen Welland-Kanals vollendet worden. Die oberen Binnenseen und ihre kurzen Verbindungs-Kanäle bieten der Großschifffahrt nirgends Schwierigkeiten, so dass schon jetzt auf der 1600 km langen Strecke zwischen Buffalo am Eriesee und Chicago um Michigansee Schiffe von 4 bis 5 m Tiefgang verkehren.

Der Welland-Kanal

Bereit im Jahre 1828 wurde zur Umgehung der Niagarafälle ein, nach einem Nebenfluss des Niagara ›Welland‹ benannter Kanal angelegt, welcher Schleusen mit 33,5 in langen Kammern und 6,7 m weiten Toren erhielt. Nach Einführung der Eisenbahnen sah man sich, um der Konkurrenz zu begegnen, zu einem Umbau genötigt, wobei die Kammerlängen auf 46 m und die Torweiten auf 7,8 m vergrößert wurden. Trotz mehrfacher Erweiterungsbauten, zu welchen man sich in der Folge gezwungen sah, konnte der Welland-Kanal Anfang der 1870er Jahre den Kampf gegen die Eisenbahnen nicht mehr bestehen, da er nur Schiffe von 400 — 450 Tonnen Tragfähigkeit aufzunehmen vermochte, während auf den Seen weit größere Fahrzeuge verkehrten. Die Regierung der Vereinigten Staaten van Britisch-Amerika entschloss sich daher, den oberen Teil des Kanals bis auf 4,6 m zu vertiefen, im unteren Teil jedoch eine vollständig neue Linie anzulegen, da ein Umbau der Schleusentreppe, die auf 12 km Länge 26 Schleusen enthält, unüberwindliche Schwierigkeiten geboten hätte. Die Sohlenbreite des neuen Welland-Kanals beträgt 30,5 m, die Wassertiefe 4,6 m. Seine Schleusen haben 82 m lange Kammern und sind in den Häuptern 13,6 m weit. Die ganze Länge des Kanals beträgt 48 km. Sein Gesamtgefälle, das 100,5 m misst, ist auf 25 Schleusen verteilt. Die Speisung erfolgt aus dem Eriesee. Der Neubau wurde im Jahre 1874 begonnen und im Oktober 1881 beendet. Die Baukosten haben 50 Mill. Mark betragen.

Die großen Dampfer der Binnenseen, welche jetzt nur bis Buffalo gelangen können und dort ihre Getreideladungen auf den Eriekanal oder die New Yorker Zentralbahn abgeben, werden in Zukunft bis Oswego am Ontariosee fahren, wodurch der Landtransport um 160 km abgekürzt wird. Die hierdurch bewirkte Frachtersparung ist sehr beträchtlich, da die großen Seedampfer ungemein billige Frachtsätze haben. 1860, als die Schiffe durchschnittlich 430 Tonnen Tragfähigkeit besaßen, lieferten sie das Getreide von Chicago noch Buffalo (1600 km) zu 17 Pf. für den Hektoliter, im verflossenen Jahr 1888, wo die meisten Schiffe über 1000 Tonnen, viele sogar über 2000 Tonnen tragen konnten, zu 4 bis 5 Pf. für den Hektoliter, d. i. 2,04 Pf. für die Kilometer-Tonne.

Wenn der Lorenz-Strom für die Seeschiffe aus Europa eröffnet sein wird, so erhält der Welland-Kanal eine gegenwärtig noch nicht zu übersehende Bedeutung für den Getreidehandel der Welt. Er ist für mittelgroße Seeschiffe bis 4,2 m Tiefgang befahrbar, welche in Zukunft die reichen Weizenernten des fernen Westens direkt nach den Häfen Europas verfrachten können, eine Aussicht, deren wirtschaftliche Folgen sich vorläufig jeder Berechnung entziehen.

• Auf epilog.de am 9. November 2016 veröffentlicht

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