Forschung & TechnikWissenschaft

Siegfried Hartmann

Die Leitung des Schalls

Geräuschübertragung durch Luft, Holz, Eisen, Wasser

Naturwissenschaftlich-Technische Plaudereien • 1908

Voraussichtliche Lesezeit rund 6 Minuten.

Dichter Nebel lagert über der Ostsee. Man kann vom Heck des großen Fährschiffes, das uns mitsamt unseren D-Zugwagen von Warnemünde nach Gjedser fährt, kaum den Bug erkennen. Als see­befahrene Landratten verzapfen wir unseren minder unterrichteten Reisegefährten bereits die Weisheit, dass bei derartigem Nebel sich die Einfahrt in den Hafen ganz wesentlich verzögern und wir voraussichtlich mit großer Verspätung nach Kopenhagen kommen würden. Plötzlich sehen wir dicht vor uns das Feuerschiff auftauchen. Mit einer Sicherheit wie beim schönsten, klarsten Wetter, bei kaum verringerter Fahrt hat also unser Schiff dem Ziele zugesteuert. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Bloß nach dem Kompass kann auch der erfahrenste Steuermann ein Schiff bei solch unsichtigem Wetter nicht so haarscharf genau auf der richtigen Route halten. Doch wozu hat der Mensch die Sprache, als um durch Fragen seinen Wissensdurst zu stillen?

»Wir richten uns nach unterseeischen Glockensignalen«, klärte mich der befragte Offizier des Schiffes auf, »an Backbord und an Steuerbord (an der linken und der rechten Seite des Schiffes) haben wir je einen Kasten unter der Wasserlinie mit einer Hörmembran wie beim Telefon; trifft ein Ton diese Membran, so meldet sie ihn getreulich weiter nach dem Steuer­manns­haus. Bei unsichtigem Wetter werden vom Gjedser Feuerschiff und von Warnemünde-Hafenmole Glocken unter dem Wasser angeschlagen. Hören wir ihren Ton nur durch das Backbordtelefon (links), so liegt das Schiff zu weit rechts und wir müssen mehr links steuern, hören wir ihn nur an Steuerbord, so müssen wir mehr rechts steuern, fahren wir aber in der richtigen Richtung gerade auf die Glockenstation zu, so hört man durch beide Telefone Backbord und Steuerbord die Glockenschläge gleich laut.«

»Und funktioniert die Sache sicher?«

»Bis jetzt ganz ausgezeichnet. Wir sind auch nicht die ersten, die eine solche Anlage an Bord haben. Schon vor einigen Jahren hat man in Amerika Versuche mit derartigen unterseeischen Signalen gemacht. Dann sind einige unserer transatlantischen Dampfer damit ausgerüstet worden, und wenn ich nicht irre, können an der Einfahrt zur Weser unterseeische Glockensignale für die großen Lloyd­dampfer gegeben werden.«

»Mir scheint nur eins wunderlich, dass man die Signale unter dem Wasser gibt.«

»Das ist ja aber gerade die Hauptsache! Erstens hört man die Glockenschläge unter dem Wasser viel weiter …«

»Weiter?«

»Ja natürlich. Haben Sie das noch nicht beobachtet? Wasser leitet die Schallwellen ganz vorzüglich. Das haben eben die praktischen Versuche erwiesen.«

»Und in der Theorie weiß man es schon recht lange«, mischte sich ein Herr jetzt in unser Gespräch, der sich später als ein Herr La Cour vorstellte, Verfasser der ›Historisk Fysik‹, »ich will ihnen eine kleine Geschichte erzählen, wer und wie man die Tatsache, dass Wasser Schallwellen rascher leitet als Luft, feststellte. Man schrieb das Jahr 1827, als Colladon und Sturm, zwei gelehrte Physiker, an einem schönen Sommerabend jeder in einem Boot auf den Genfer See hinaus­ruderten, um sich in einer genau gemessenen gegenseitigen Entfernung von mehreren Kilometern zu verankern. Colladon hatte von seinem Boot eine Glocke in das Wasser gehängt, mit einem Hammer konnte er sie anschlagen. Sturm hatte seinerseits ein mächtiges Hörrohr mit dem Schalltrichter unter das Wasser getaucht, dem Boote Colladons zugekehrt. Im gleichen Moment, wo Colladon die Glocke anschlug, tauchte er eine Lunte in ein Häufchen Pulver, so dass Glockenschlag und Pulver­blitz zusammenfielen. Sturm sah den Blitz aufleuchten und maß mit einer Sekundenuhr die Zeit. Nur wenige Sekunden, dann hörte er durch das Rohr den Glockenschlag. Die Rechnung ergab, dass die Schallwellen sich durch das Wasser mit einer Geschwindigkeit von 1435 m in der Sekunde fortgepflanzt hatten, d. h. über viermal schneller als durch die Luft, in der sie 333 m in der Sekunde erfahrungsgemäß zurücklegen. Der schnelleren Fortpflanzung entsprach außerdem auch eine bessere, deutlichere Übertragung und vor allem, was für die heutige Verwendung dieser Methode sehr wesentlich ist, die leichte Möglichkeit, die Richtung, aus der der Schall kommt, genau zu bestimmen. In mancher Beziehung erinnert dieses physikalische Experiment an die neue unterseeische Signalgebung.«

»Schade, dass man ganze 75 Jahre gebraucht hat, um den Schritt vom theoretischen Experiment zur nützlichen Praxis zu tun.«

»Schade, ja. Aber das ist leider oft so. Der wirkliche Gelehrte ist in den aller seltensten Fällen ein Mann der praktischen Nutzanwendung; wäre er es, so würde er nicht mehr lange emsiger Gelehrter sein, d. h. ein Mann, der ohne jede Rücksicht auf ›Nützlichkeit‹ selbstgesteckten idealen Zielen nachgeht. Gerade in dem genannten Falle hat sich schließlich gezeigt, dass das rein wissenschaftliche Experiment Ausgangspunkt sein konnte für eine hochwichtige Erfindung für die Sicherheit der Schifffahrt. In anderen Fällen steht heute noch die praktische Nutzanwendung aus. Man hat z. B. längst festgestellt, dass die Metalle den Schall noch weit besser leiten als Wasser, Kupfer z. B. mit 3760 m in der Sekunde, Stahl 5000, ja dass besondere Holzsorten, wie z. B. Kiefernholz, noch Besseres leisten: 5800 m in der Sekunde. Doch aus alledem hat bisher meines Wissens noch niemand eine Nutzanwendung gezogen … Vielleicht wäre es geworden, wenn man nicht unterdessen Telegraf und Telefon erfunden hätte.«

»Sie meinen, aus jenen Tatsachen der raschen Leitfähigkeit hätte sich unter Umständen eine Art Fernsprechen oder doch wenigstens Ferntönung entwickeln können.«

»Wohl möglich, hier mag das Bessere der Feind des Guten geworden sein.«

»Hat man das gute Hören unter Wasser nicht auch noch ausgenutzt, um das Nahen von Schiffen aus dem Geräusch der arbeitenden Maschinen zu erkennen?«

»Ganz recht. Auf französischen Unterseebooten sind ausgedehnte Versuche in dieser Richtung gemacht worden. Hier ist die Sache ja auch von ganz besonderem Wert; da man unter dem Wasser nichts sieht, wenigstens nicht ohne Hilfe nicht ganz einfacher Apparate.

Doch wir brauchen gar nicht immer an das Wasser zu denken. Auch zu Lande versteht man es gar wohl, sich die bessere Schallleitung des Erdbodens praktisch zunutze zu machen. Wenn unsere Soldaten bei Übungen auf Erkundungen ausgeschickt werden, kann man wohl beobachten, dass einer das Ohr auf die Erde legt. Auf diese Weise wird Pferde­getrappel von Reitertrupps sehr weit gehört, selbst dann noch, wenn das Geräusch der Hufe durch Umwickeln mit Tüchern absichtlich gedämpft ist.

Die Tatsache, dass der feste Boden Geräusche besser fortleitet als die Luft, erklärt auch manche Erscheinung, die uns sonst befremdet. Wenn in größerer Entfernung ein Böllerschuss abgefeuert wird, hören wir ihn zuweilen zweimal unmittelbar hintereinander. Das erste Mal war die Erde die Vermittlerin des Schalles, das zweite Mal die Luft. Wer das Vergnügen hat, in der Nähe von Vulkanen und Erdbebenherden zu wohnen, kann dieselbe Beobachtung häufig anstellen. Man hat dann oftmals das Gefühl, als ob die Erde unter einem grollte, dabei liegt der Herd des Geräusches vielleicht meilenweit entfernt, die gute Leitung des Schalles durch den Erdboden ist die Ursache der Sinnestäuschung. Etwas Ähnliches wie der auf Kundschaft ausgesandte Soldat macht zuweilen der Eisenbahner. Wenn er sich vergewissern will, ob ein Zug naht, legt er das Ohr an die Schiene. Hier nutzt der Mann zwar nicht ganz vorschriftsmäßig, aber doch einfach und praktisch die Tatsache der guten Schallleitung des Stahls aus. Es gibt da noch eine ganze Menge Beispiele. Eins fällt mir noch ein: eine Erscheinung, die heute fast jeder Städter beobachten kann. Woran hört man das Nahen einer Elektrischen? In den meisten Fällen an dem Klingen und Surren des Fahrdrahtes. Das Geräusch der rollenden oder schleifenden Stromabnehmer pflanzt sich rasch und sicher um alle Ecken herum durch den Kupferdraht fort und dringt auf diese Weise schneller und deutlicher an unser Ohr wie das eigentliche Fahrgeräusch der Räder. Ich erinnere mich noch deutlich, wie in der ersten Zeit, als die Elektrischen aufkamen, bei uns fast alle Aufhänge­drähte an den Häusern befestigt wurden. Aber kaum begannen die Wagen zu fahren, da regnete es Beschwerden der Hausbewohner. Die metallenen Drähte übertrugen die Schleifgeräusche unmittelbar auf die Hausmauern und diese pflanzten sie getreulich durch alle Stockwerke fort, viel stärker als man es beim Gehen auf der Straße durch die Luft hörte. Inzwischen ist man wie stets im Leben durch die Erfahrung klüger geworden und sorgt durch die Art der Aufhängung und die Art der Anbringung der Mauerhaken dafür, dass den ungebetenen Schallwellen der Weg verlegt wird. Fast alle unsere wichtigen Baumaterialien sind leider gute Schallleiter, zum großen Kummer der geplagten Bewohner. Wie manchem Baumeister, wie manchem Ingenieur hat das schon arges Kopfzerbrechen verursacht!«

• Auf epilog.de am 27. Dezember 2025 veröffentlicht

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