VerkehrLuftfahrt

Zur Flugfrage

Von Otto Lilienthal

Prometheus • 30.8.1893

Voraussichtliche Lesezeit rund 20 Minuten.

Es gibt kaum eine geeignetere Situation, Fliege­gedanken nachzuhängen, als eine Eisenbahnfahrt bei trockenem, staubigem Wetter, und noch dazu, wenn dieselbe von der Reichshauptstadt nach den östlichen Distrikten Preußens sich ausdehnt, woselbst die landschaftliche Abwechselung hauptsächlich darin besteht, dass die Gegend zuerst Oderbruch, dann Warthe­bruch, Netze­bruch und schließlich Weichsel­bruch heißt.

Unwillkürlich greift man dann zu Bleifeder und Papier, um seinen Unmut darüber auszudrücken, dass man diese endlosen, saftigen Wiesen bei tagelanger Fahrt in einem Wirbel von Sand und Staub zurücklegen muss.

Es ist eine große Schattenseite des Eisenbahnverkehrs, dass gerade die schnellen Züge in der besseren Jahreszeit den reisenden Menschen dazu verdammen, die vorüberfliegende Landschaft durch verschlossene, verstaubte Fenster betrachten zu müssen, während der feine Sand durch alle Poren des Wagens eindringt und die Behaglichkeit in empfindlicher Weise stört.

Weder die spannendste Lektüre noch die interessanteste Unterhaltung kann hierüber hinweghelfen. Ich habe gefunden, dass sich die unangenehme Lage dadurch am besten vergisst, dass man den Staub aufwirbelnden Zug wenigstens im Geiste durch die höhere, reinere Atmosphäre dahinfliegend begleitet und seine flugtechnischen Gedanken zu Papier bringt. Und in der Tat, die meisten meiner flugtechnischen Aufsätze verdanken diesen in staubiger Coupe-Atmosphäre sich bildenden Stimmungen ihre Entstehung, obwohl es kein angenehmes Gefühl ist, wenn die stenografierend Hand den feinen Sand auf dem Papiere knirschend vor sich herschiebt.

Während so die Wiesen, Felder und Wälder hinter den trüben Fensterscheiben vorüberfliegen und ich in dieser Weise, wie schon so oft, meinem gepressten Herzen und meiner verstaubten Lunge Luft zu machen suche, fällt mir ein, dass ich mich auf einer bevorzugten Reiseroute der in Berlin domizilierenden Luftballons befinde, die, über allem Staub erhaben, von dem meist üblichen Westwinde häufig bis in die posenschen Gefilde sich hinwehen lassen.

Gar oft sind diese westöstlichen Luftfahrten von gewandten Federn beschrieben, so dass es nicht schwer hält, sich die Vorstellung einer staubfreien Fahrt mit herrlichster Aussicht zu verschaffen.

Übung und Erfahrung haben es dahin gebracht, dass diese Luftreisen mit dem Ballon, abgesehen von dem immer kritischen Moment der Landung, meist so gefahrlos verlaufen, wie eine Eisenbahnfahrt, nur der große Übelstand haftet ihnen an, dass man damit zufrieden sein muss, wohin der Wind den Ballon verschlägt.

In letzter Zeit hatte die Millionenstadt an der Spree fast jede Woche mehrfach das Vergnügen, einen Militärballon oder den vom Unglück so hart verfolgten Vereinsballon Humboldt sowie seinen Nachfolger Phönix majestätisch über sich aufsteigen und mit der herrschenden Windrichtung abtreiben zu sehen.

Jede dieser Fahrten bereichert unsere Kenntnis über die Physik der Atmosphäre; denn bei jedem Aufstieg gelangt eine Reihe höchst sinnreicher Instrumente zur Anwendung, welche Temperatur, Druck und Feuchtigkeit der Luft genau registrieren, während die Wetterkunde durch immer genauere Erforschung der Wolkenbildungen und anderer atmosphärischer Erscheinungen gefördert wird.

Ganz getrennt von diesem Forschungsgebiete liegen indessen die Bestrebungen zur Förderung der Flugfrage im engeren Sinne, zur Herbeiführung einer freien willkürlichen Ortsveränderung durch die Luft.

Wenn zwar auch hin und wieder noch die Ansicht auftaucht, den freien Flug des Menschen durch Lenk­bar­machen des Ballons zu erreichen, so sieht die überwiegend größere Zahl der Flugtechniker heute doch von jedem aerostatischen Auftriebe ab, sobald es sich darum handelt, das freie Flugvermögen des Menschen zu verwirklichen. Immer zahlreicher werden die Arbeiten, welche darauf hinzielen, Licht über die Vorgänge beim aktiven Fliegen zu verbreiten.

Den meisten Forschern dienen die Vögel als Vorbild. Einige glauben indessen auch, im Insektenflug wichtige Aufschlüsse über die Flugfrage zu erkennen. Aber nicht nur auf dem Papier beschäftigt man sich mit Flugprojekten, auch wirkliche Flugversuche werden hier und da veranstaltet, teils in kleinerem, teils in größerem Maßstab. Gegenwärtig wetteifern fast alle Nationen um die Ehre, die erste wirklich brauchbare Flugmaschine hergestellt zu haben. Damit soll nun nicht gesagt sein, dass von Staats wegen wesentliche Anstrengungen gemacht würden, die Flugtechnik zu fördern. Alles, was geschieht, die große Erfindung des freien Fluges anzustreben, ist bis jetzt durchaus privater Natur. Die Staatsverwaltungen werden später ihr Interesse bekunden, wenn schon jemand wirklich einmal frei die Luft durchflogen hat und eigentliche Erfindungsopfer nicht mehr zu fürchten sind.

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• Auf epilog.de am 29. November 2024 veröffentlicht

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