FeuilletonJournalismus & Nachrichtenwesen

Wie eine große Zeitung hergestellt wird

Die Gartenlaube • 1873

Voraussichtliche Lesezeit rund 6 Minuten.

Es gab eine Zeit, da die Leute, welche täglich gewissenhaft ihr Journal lasen, zu den Ausnahmen gehörten – heute ist die Sache umgekehrt und ein Mann, welcher auf Bildung Anspruch macht und sich nicht durch die Lektüre eines oder des anderen Blattes über die Tagesgeschichte zu unterrichten strebt, ist eine solche Seltenheit, dass er eigentlich verdienen würde, unter den Kuriositäten der Wiener Weltausstellung zu glänzen.

Obwohl dieser erfreuliche Zustand eine nicht wegzuleugnende Tatsache ist, haben aber die Leser in der Regel entweder gar keinen oder nur einen sehr mangelhaften Begriff von der Erzeugung einer großen täglich erscheinenden Zeitung. Es ist dies auch gar nicht anders möglich. Eine Zeitung ist das Produkt der ange­streng­testen Tätigkeit so mannigfaltiger und so fieberhaft schnell ineinandergreifender geistiger und materieller Kräfte, dass sie jedermann, der nicht einen intimen Einblick in das innere Getriebe derselben genommen, als ein Wunder erscheinen muss, verblüffend und beängstigend wie etwa die Erscheinungen der Optik und des Magnetismus einer minder aufgeklärten Epoche.

Nur wer vollständig begreift, würdigt auch vollständig, und es ist einer der bezeich­nendsten und wohl auch am meisten zu preisenden Züge der Gegenwart, dass sie den Dingen auf den Grund zu kommen sucht. Wir wissen, dass es keine Wunder gibt, aber indem wir den auffallenden und durch ihre Wirkungen überwältigend auftretenden Erscheinungen bis zu ihren letzten Ursachen nachgehen, lernen wir die Tätigkeit, welche so Unglaubliches zustande gebracht, um so höher schätzen und fühlen uns gleichfalls angeregt, unsere Kräfte zu messen; indem wir Andere ganz nach Gebühr achten lernen, wächst unser eigener Mut, unser Selbstvertrauen.

Es war nur logisch, dass eine Unternehmung, wie die Neue Freie Presse, welche stets eine besondere Feinfühligkeit für Tagesfragen bewiesen, den Beschluss fasste, dem aus aller Herren Ländern auf der Wiener Weltausstellung zusammenströmenden Publikum in übersichtlicher und deutlicher Weise augenfällig zu zeigen, wie heutzutage eine große Zeitung hergestellt wird. Zu diesem Zweck wurde auf dem Ausstellungsplatz, dicht am Industrie-Palast, ein eigener Pavillon erbaut, in welchem während der sechsmonatlichen Dauer der Exposition eine im Doppelbogen erscheinende Ausstellungszeitung redigiert, gesetzt, stereotypiert, gedruckt und gefalzt werden soll, um dann frisch von der Maschine weg in die Hände des Publikums zu gelangen.

Pavillon der Neuen Freien PresseDer Pavillon der ›Neuen Freien Presse‹ auf der Wiener Weltausstellung.

Der Pavillon ist zweckmäßig gebaut, namentlich aber mit Rücksicht auf seinen Zweck, zu belehren und zu veranschaulichen; im gefälligen Renaissancestil gehalten, besteht er aus einem stark vorspringenden, zwei Geschosse umfassenden Mittelraum, an den sich die Seitenflügel schließen, deren gewaltige Rundbogenfenster so hoch und so breit sind wie die Türen des Mittelbaus und das Gebälk berühren. Da es der Natur der Sache nach geboten war, den Pavillon in seiner Architektur eben so an der dem Prater zuge­wendeten Seite als an jener zu betonen, welche gegen die Rotunde sieht, so ist der Gedanke des Baukünstlers Hasenauer glücklich zu nennen, die entsprechenden Fassaden gleichmäßig reich zu schmücken, so dass man eigentlich von einer Hauptfassade nicht reden kann, da die eine nur die Wiederholung der anderen ist. Die beiden Geschosse des Mittelbaues sind durch die vom Fuß bis zum Fries reichenden scharf ausladenden Pilaster in eines zusammengefasst; der ganze Bau ist von einer mit hübschem Geländer versehenen Galerie umgeben, von wo aus es jedem Wissbegierigen möglich ist, die kleinsten Einzelheiten der journalistischen Produktion zu belauschen und klar darüber zu werden, wie ein Vorkommnis, das etwa um zwölf Uhr mittags geschehen, bereits um vier Uhr nachmittags mit allen Details in der Zeitung zu lesen sein kann.

Das Erdgeschoss zerfällt in drei durch Galerien geschiedene große Säle, in deren mittlerem die nach amerikanischen Mustern konstruierte, in den Ateliers des G. Sigl gebaute Druckmaschine arbeiten wird. Sie bedeutet in Wahrheit eine verbesserte Auflage der bisher in Gebrauch gewesenen ähnlichen Druckmaschinen, welche stündlich zehntausend Bogen auf beiden Seiten bedruckten und der Bedienung von sechs Personen bedurften. Einzelne kleine Unzukömm­lich­keiten des Mechanismus und einschlägige Verbesserungen, welche man an den englischen Druckmaschinen angebracht hatte, lenkten den technischen Direktor des Blattes, Christoph Reißer, auf eine Reihe von Veränderungen, welche nach seinen Angaben von dem Ingenieur Becker in der Siglschen Fabrik ausgeführt wurden und sich seit kurzem bereits praktisch bewähren. Durch diese Verbesserungen wurde der ungemeine Vorteil erzielt, dass nun die Maschine ohne alle Beihilfe von Menschenhänden, selbstständig die ganze viel­geglie­derte Arbeit verrichtet. Diese Maschine, die erste, welche in Österreich mit dem sogenannten endlosen Papier im großartigen Maßstab hantiert, wird dasselbe, wie es in 300 kg schweren Walzen von der Pittener Fabrik anlangt, unmittelbar erfassen, diese Walzen abrollen, das Papier befeuchten, nach dem Format der Neuen Freien Presse schneiden, auf die Druckzylinder leiten, bedrucken und in den mit der Druckmaschine verbundenen Falz­apparat so einführen, dass dieser das fertige Blatt achtfach zu jener handlichen Form faltet, wie es dem Abonnenten zukommt. All das ist das Werk weniger Augenblicke; jetzt sehen wir den Zylinder mit dem weißen Papier sich zauberhaft schnell um seine Achse drehen; einige Sekunden später erscheint Blatt für Blatt nett bedruckt, und im nächsten Augenblicke ist es gefalzt. Diese Maschine ist im Stande, im Verlauf einer Stunde 11 000 Exemplare unseres Morgenblattes oder 44 000 Exemplare unseres Abendblattes zu liefern.

In dem einen der Seitensäle befindet sich die Setzerei; an den Regalen ist eine Neuerung angebracht, die schon aus Gesundheits-Gründen mit Freuden zu begrüßen ist und nachahmenswert erscheint; es ist ein vorspringendes Brett, welches dem Setzer ermöglicht, seine Arbeit im Sitzen zu verrichten. In dem anderen Seitensaal ist die Stereotypie und die Seele sämtlicher Mechanismen des Pavillons – eine sogenannte Wassersäulenmaschine – tätig. Die Haupttriebkraft ist also hier nicht, wie anderwärts, der Dampf, sondern das Wasser, wodurch alle die Unannehmlichkeiten, welche Dampfmotoren mit sich zu bringen pflegen, im Interesse der in diesem Haus Arbeitenden sowohl als des Publikums vermieden werden. Auf der dem Weltausstellungspalast zugekehrten Seite enthält das Erdgeschoss überdies die Lokalitäten der Expedition.

Im ersten Stockwerk befinden sich die Redaktions­zimmer, das Sekretariat etc. Die Kommunikation im Haus ist die sach­gemäßeste, die man sich denken kann, und es wird den Besuchern gestattet sein, jeden einzelnen Zweig des Gesamtbetriebes aus unmittel­barster Nähe in seiner Tätigkeit zu beobachten. Damit dies, ohne dass irgendeine Störung zu befürchten wäre, geschehen könne, hat man die einzelnen Maschinen mit Galerien umfriedet, welche, während sie für das Publikum gewisse nicht zu überschreitende Schranken bilden, doch so eingerichtet sind, dass sie den Verkehr für die im Haus Beschäftigten nicht hemmen, sondern nach jeder Richtung hin frei halten.

Diejenigen Zuschauer, welche sich damit begnügen, von dem Ruheplatz der das Haus umspannenden Galerie das Getriebe in den Sälen des Erdgeschosses zu belauschen, werden die Empfindung haben, als sähen sie durch die Glastafel eines Bienenkorbes das Walten und Schaffen der fleißigsten aller Insekten vor sich. Da ist bei allem Eifer, bei aller Raschheit, jene ruhige Umsicht, welche bei den Tieren das Ergebnis des tausend und aber tausend Jahre dieselben Pfade weisenden und wandelnden Instinktes, bei den Menschen das Resultat von Erkenntnis, Erfahrung und Charakterbildung ist.

Unter allen Ausstellungsobjekten, welche im Prater zur Schau gestellt werden, dürfte dieser Pavillon eines der interessantesten und lehrreichsten sein. Er wird jenen, denen auch heute noch die Presse zu schnell im Urteil, zu wenig genau im Detail ist, die Überzeugung beibringen, dass die Journalistik nur deshalb eine solche Macht, ein solch imponierender Faktor des öffentlichen Lebens geworden, weil sie mit der Plötzlichkeit der Inspiration arbeitet; jene aber, welche noch immer an das Märchen glauben, die Journalisten seien jemals verlegen um Stoff, werden durch den Augenschein erfahren, dass unsere größte Kunst nicht darin besteht, alles, was wir erfahren, zu bringen, sondern in dem sicheren Geschmack, der uns aus der Überfülle der uns zugehenden Nachrichten, ohne lange zu wählen, stets das Wichtigste aufgreifen, das Gleichgültige oder Nichtige aber beiseiteschieben lässt. Unermüdlich, treffsicher, alles beachtend – so soll eine große Zeitung sein und so wird sie hoffentlich auch in diesem Pavillon erscheinen.

• E. R.

• Auf epilog.de am 26. März 2025 veröffentlicht

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