VerkehrPostwesen

Weihnachtsfreuden der Berliner Post

Skizziert von Friedrich Bücker

Daheim • 1.2.1868

Voraussichtliche Lesezeit rund 13 Minuten.

Die Berliner Post hat ihre ganz besonderen Weihnachtsfreuden und die korrespondierende Welt putzt ihr einen Christbaum, gegen den die größte Libanon­zeder nur ein Kinderweihnachtsbäumchen ist. An den stärksten Ästen und in der Nähe des Stammes hängen die Hundert­pfund­pakete aller Formen und Dimensionen und mit den verschiedensten Signaturen und Begleitadressen. Daneben baumeln, mit Ketten an den Ast geschlossen, Geldfässer, Wertpakete und Postvorschüsse. An den prächtigen Girlanden, welche sich rings um den Baum von Zweig zu Zweig bis in den Wipfel ziehen, hängen so dicht nebeneinander, wie die Bücklinge an der Trockenleine: rekomman­dierte und gewöhnliche Briefe, Preis­courante, Zirkulare, Brief­porto­tarife und Postdienstinstruktionen. An den Zweigenden, also dort, wo an dem kleineren Familienchristbaum die herrlichsten Figuren und Figürchen aus Marzipan und Zuckerkand prunken, hängen Peitschen, Posthörner und Brieftaschen. Versteckt, verheimlicht in dem dichtesten Gezweige der Riesentanne sitzen Kistchen und Pakete als Attrappen. Wer sie öffnet, findet statt Zigarren und Pfefferkuchen: Knallsilberpräparate, Schießbaumwolle, Feuerwerkskörper, Pyro­papier und andere leicht explodierende Sachen. Der Riesenchristbaum erglänzt in dem Schimmer von hundert und aber hundert Paketwagen- und Brief­karriolen-Laternen, Sekretär- und Büro-Lampen, Stall- und Remisen­lichtern, und auf seinem Wipfel steht statt des geputzten und bebän­derten Wachsengels der Generalpostdirektor mit dem ehernen Kommandostab.

Doch auch unter dem Christbaum hat die korrespondierende Welt der Berliner Post ›aufgebaut‹. Über­bürdete Paketwagen, deren Gespanne im schärfsten Trab einher­schnaufen, um den Zug nicht zu verfehlen; einspännige Brief­karriolen, die wie der Blitz vom Hauptpostgebäude nach allen Ecken und Enden der Stadt und wieder zurückfliegen; schweißtriefende Briefträger, die drei, vier Treppen empor und wieder hinab­keuchen; gehetzte Packerei­beamte, die eine Kiste nach der anderen aus der den Schalter umlagernden Menge auf die Waage ziehen, nehmen die Stelle der Bleisoldaten, Kegelspiele, Schaukelpferde, Patron­taschen und des übrigen Spielzeugs ein, welches sich gewöhnlich unter dem Kinderchristbaum befindet. Ja, wenn nun die Berliner Post den Christbaum, den ihr das korrespondierende Publikum putzt, auch noch zu plündern wagte, dann … dann schrie die feder­fuchsende Welt Zeter und Mordio!

Die Hauptpostexpedition in der Königs- und Spandauer Straße gleicht in der Sturm- und Drangperiode der Weihnachtszeit und aus der Vogelperspektive betrachtet, einem riesigen Ameisenhaufen, den ein mutwilliger Junge mit einem Ziegen­hainer umgerührt. Die sogenannten Ameiseneier oder Puppen, die mit rastloser Emsigkeit nach allen Seiten geschleppt werden, sind nichts als Briefe. Diese Puppen sind gewöhnlich in einem Gespinst, dem Kuvert, eingeschlossen, und harren alle der schleunigsten Entpuppung durch diejenigen, an die sie adressiert sind. Ich, der ich so schwach­nervig bin, dass ich einen wimmelnden Ameisenhaufen nicht lange betrachten kann, vergleiche die Hauptpostexpedition in der Sturm- und Drangperiode gern mit einem kolossalen Fischteich, in den auf den verschiedensten Zuflüssen aus allen Weltgegenden die Fische aller Ordnungen und Gattungen strömen, und daran eine Unmasse von Expe­dienten täglich, stündlich angelt, mit Netzen fängt, harpuniert und in Reusen hascht. Nach jedem Fang wird dann mit einer Geschwindigkeit in die passenden Behälter, Karri­olen, Kasten, Körbe, Taschen und Beutel hinein sortiert, dass es noch fraglich ist, wer eine größere Fingerfertigkeit besitzt, der Berliner Taschen­dieb­club oder die Berliner Hauptpostexpedition. Die Goldfische in dem Riesenteich sind die Geld- und Wertbriefe. Sie schießen so massenhaft in das Bassin hinein, dass die Oberfläche des Wassers davon blinkt und glitzert. Aber auch abscheuliche Fische, grau, mit schlechter Schwimmblase, finden sich darin. Sie sind oft stachel­bedeckt und stets dergestalt mit Gräten gefüllt, dass diese beim Verspeisen meistens in der Kehle sitzen bleiben und zu fürchterlichem Würgen, oft zu gefährlichen Entzündungen des Kehlkopfes führen. Diese entsetzlichen Grätenfische sind die Mahnbriefe und die von Drohbriefen begleiteten ellenlangen Rechnungen. Es gibt aber auch noch andere ganz eigentümliche Tierlein in dem Bassin. Sie scheinen zu den Goldfischen zu gehören, denn sie sind meistens zart rosa angehaucht. Ihre aalförmige und aalglatte Gestalt erinnert aber auch an die Wasserschlangen. Sie schmecken süßlich, vergiften aber nicht selten mit dieser Süßigkeit. Das kommt daher, weil sie im Inneren Geschwüre, ich wollte sagen … Schwüre haben. Diese Tier­lein, halb Fisch, halb Schlange, sind die Liebesbriefe. Wir wollen uns mit den anderen, oft namenlosen Insassen des Riesenbassins nicht abgeben und am allerwenigsten die plumpen Stockfische oder Bettelbriefe, betrachten, welche oft in die verfängliche Form und den verlockenden Schiller der Gratu­lations­briefe hinüberspielen; wir wollen auch das nach Legionen zählende Heer der gewöhnlichen Weißfische oder ordinären Briefe keines weiteren Blickes würdigen, sondern unser Gleichnis fallen lassen und einer Expedition, wie sie die Sturm und Drangperiode in allen Spielarten aufzuweisen hat, beiwohnen.

Die Weihnachtsfreuden der Berliner Post sind mit einem Worte der Geschäftsverkehr mit den Postanstalten in Berlin während der Weihnachtszeit. Je stärker dieser Verkehr ist, desto größer sind die Freuden. Sind die Brief- und Fahrpostgegenstände gar nicht zu bändigen, so ist eben die Freude eine unbändige. Den größten Anteil an diesen Freuden hat natürlich die Hauptpostexpedition, weil sie der Zentralpunkt des internen, externen und Wechselverkehrs ist. Sie zerfällt in das Hofpostamt in der Königstraße und in die Hauptstadtexpedition in der Spandauer Straße. Beide wohnen unter einem Dach, in dem Hauptpostgebäude, arbeiten Hand in Hand, und sind durch Höfe voneinander getrennt, damit sie sich gehörig ausstrecken können. Das Hofpostamt ist der Mittelpunkt und die Haupttriebfeder für den externen, die Hauptstadtpostexpedition dasselbe für den internen Verkehr, und beide liegen einander in den Haaren oder miteinander im Wechselverkehr. Während das Hofpostamt von der Königstraße aus an die Eisenschienen der länder- und völkerverbindenden Bahnen anknüpft, gehen die Fühlfäden der Hauptpostexpedition von der Spandauer Straße nach allen Ecken und Enden der Stadt und berühren nicht weniger als sechsunddreißig Stadtpostexpeditionen. Ihre feinsten Fühl­hörner sind die in dem endlosen Straßen-, Gassen- und Brückengewirr der Weltstadt aushängenden vierhundert Briefkasten. Sobald nun ein solches Stadtpostfühlhorn mit einem Stadtbrief berührt wird, oder mit pro­saische­ren Worten, sobald ein Stadtbrief in den Kasten fällt, zeigt die Stundenplatte, wann derselbe expediert wird. Zeigt die Stundenplatte sechs, so ist er spätestens um 8 Uhr in der Hand des Adressaten. Die Dauer der Bestellung ist von der Zeit abhängig, die dazu erforderlich ist, den Brief nach der Hauptstadtpostexpedition und von dort der betreffenden Postexpedition, in deren Bezirk und Revier er gehört, mittelst Brief­karriole zuzuführen. Die Brief­karriolen werden etwa zehn Minuten vor der vollen Stunde von der Hauptstadtpostexpedition abgefertigt und eilen pfeil­geschwind von Expedition zu Expedition. Sie haben sogar, und das wissen die wenigsten Berliner, hinten an der Wagentür noch einen Briefkasten, und man kann, wenn man die nötige Elastizität dazu besitzt, an die dahineilende Karriole hinan­springen und noch einen Brief in ihren Kasten werfen. Nach der Hauptstadtpostexpedition muss jeder Stadtbrief, wenn er in einen von dem Aufgabeort entfernter gelegenen Ortsbestellbezirk gehört. An der Zentralstelle sammeln sich also die Briefe aus allen Stadtgegenden, und sie müssen eben so schnell sortiert wie expediert werden. Zu dieser Stadtbriefarmee stoßen aber auch noch legionen­weise alle bei auswärtigen Postanstalten aufgegebenen nach Berlin bestimmten Briefe, und nur eine kühne Fantasie kann die Schwierigkeiten ermessen, welche es kostet, in dieses Chaos Ordnung zu bringen und stündlich damit aufzuräumen.

Die ungemein abstumpfende, geisttötende, maschinenmäßige Arbeit des Sortierens ist auf der Zentralstation mit der nötigen Fingerfertigkeit und Gedankenschnelle beendet. Schilling- ist von Schellingstraße, Berg- von Burgstraße, Schiffer- von Schäfer­straße, Stein- von Mein­straße, Koch- von Roch-, Krausen- von Krausnik­straße geschieden.

»Eingepackt! Zugemacht! Vorwärts! Die Karriole steht schon zu lange!« ruft der Beamte, der dafür zu sorgen, dass immer die Minute eingehalten wird.

Vier für ebenso viele Expeditionen bestimmte Kästen werden in die Karriole geschoben. Die Türen knallen zu. Die Schlüssel rasseln. Hui! saust der Einspänner die Spandauer dahin, während ein anderer wieder vorfährt. Der Braune darf nicht eher verschnaufen, bis er vor der Expedition … in der Tauben­straße hält. Zwei Briefträger empfangen die Post, öffnen rasselnd den Wagen und schleppen den Kasten mit der Nummer 8 hinauf in das Briefträgerzimmer, während die Karriole nach den Expeditionen auf dem Potsdamer Bahnhof und in der Grabenstraße weiter­saust. In dem Briefträgerzimmer der Expedition in der Tauben­straße warten nicht weniger wie vierzehn Briefträger auf die Mahlzeit, die ihnen jetzt aufgetischt werden soll. Die vierzehn Taschen öffnen gähnend ihren Schlund, und der Schmach­triemen, daran sie hängen, wird lockerer geschnallt. Ja, wartet nur, so schnell wird die Mahlzeit auch mitten in der Sturm- und Drangperiode nicht eingenommen. Als die Karriole von der Hauptstadtpostexpedition abfuhr, war es acht Minuten vor fünf. Jetzt ist es bereits fünf, und nun passt auf, was alles geschehen muss, bis der große Zeiger wieder rund gelaufen. Der Kasten, welcher eben aus der Karriole gezogen und nach oben geschleppt wurde, wird geöffnet. Vierzehn strotzend volle Briefbeutel ragen an das Tageslicht. Jeder Briefträger reißt sein Opfer an sich. Er erkennt es an der Nummer. Die Beutel werden geöffnet, um ihren Inhalt sofort in die bereit hängenden Taschen zu speien, – so glaubt ihr. Ja, wenn es doch so wäre! Nein, jetzt geht das Sortieren von neuem an. Der Postkoloss in der Königs- und Spandauer Straße hat, wie bereits erwähnt, die Mahlzeit schon zerstückelt und vorgekaut. Er hat alles geschickt, was in den Bezirk der Expedition in der Tauben­straße gehört, und auch alles schon nach Revieren geordnet. Dieses Ordnen konnte aber trotz aller Fingerfertigkeit, die er dabei entwickelt, kein gründliches sein. Darum findet auch jeder Briefträger in seinem Revier­beutel Briefe, die in die Tasche seines Nachbarn gehören. Ein lebhafter Briefaustausch ist also das erste, was nach Öffnung der Beutel in dem Briefträgerzimmer vor sich geht. – Wie fliegen die papierenen Boten von Hand zu Hand, von Tasche zu Tasche! Mittlerweile rückt der große Zeiger an der Uhr heimtückisch vor. Endlich ist die Sichtung beendet. Jetzt beginnt das Ordnen nach den laufenden Straßen und Nummern so flüchtig, dass es später auf dem Trottoir im Fluge fortgesetzt werden kann. Die Taschen füllen sich. Sie drohen zu bersten. Geduldige Schafe gehen viele in einen Stall, aber die ungeduldigen Briefe gehen in der Sturm- und Drangperiode nicht alle in die Tasche. Es müssen noch Extrapakete gemacht, unter den Arm genommen und in die Mantel- oder Hosentasche gezwängt werden. So, jetzt kann es losgehen! Hui! Auf und davon! Halt! Halt! keine Überstürzung, wenn auch der große Zeiger wieder um ein tüchtiges Stück weiter lief. Ratet, was in dem Briefkasten, der aus der Karriole gezogen und nach oben geschleppt wurde, noch angekettet, fest­geschlossen liegt? Ein Gefangener, der auf Erlösung harrt? Richtig! Die Geld- und rekomman­dierten Briefe liegen hier noch in Banden. Sie müssen erlöst, ebenfalls nach Revieren verteilt und mit­expediert werden. Die Fesseln fallen, und die Goldfische schwimmen an die Oberfläche. Nun hascht, hascht und macht, dass ihr fortkommt! Es gehört wirklich eine Briefträgerruhe oder vielmehr Unruhe dazu, um bei der Szene, die jetzt abgespielt wird, nicht aus der Haut zu fahren. Der Schatz der Geld- und rekomman­dierten Briefe muss, so gern man ihn auch in dem Briefträgerzimmer als Pensionsfonds zurückhielt, mitgenommen und der Empfang jedes Schätzleins einfach, ja doppelt bescheinigt werden. Seht, wie die vierzehn Briefträger sich um den Expedienten drängen, der die Quittungs­karte in der Hand hält. Jeder will zuerst abgefertigt sein und skizziert mit beredter Zunge die Länge und Abgelegenheit seines Reviers. Der große Zeiger nähert sich schon der Sechs und noch kein Briefträger hat die Expedition verlassen. Endlich ist der Empfang der Wertbriefe vorschriftsmäßig bescheinigt, und nun beginnt die Parforcejagd. Könnte ich allen vierzehn Briefträgern folgen, so würde ich dieses Kunststück wirklich zu Papier bringen und einen Wirrwarr schildern, darin dennoch die größte Ordnung herrscht. Ich kann mich aber leider nur an die Ferse eines einzigen klammern, und diese Jagd macht mich schon atemlos. Heidi! Heida! wie er von Haus zu Haus rennt, als peitschte ihn ein unsichtbarer Dämon mit der neunschwänzigen Katze. Hier rennt er vier Treppen nach oben, klingelt und steht wie auf Kohlen, weil ihn niemand empfängt. Er scharrt mit den Füßen, zieht abermals den Glockenstrang, und fährt nicht aus der Haut, als sich ein Schritt langsam, gemächlich rührt, und ein dummes Philister­auge durch das Türguckloch glotzt.

»Wer ist da?«

»Der Briefträger!«

Die Tür wird rasch geöffnet.

»Für mich ein Brief?«

»Nein, für Herrn Jacoby!«

»Sie haben den Weg umsonst gemacht! Hier wohnt kein Herr Jacoby!«

Die Tür fliegt wieder zu. Der Behäbige entfernt sich nach hinten, und der Briefträger ärgerlich nach unten. Und die Parforcejagd geht weiter, doch jetzt mit besserem Erfolg. Der Briefträger gibt ganze Briefberge an das Ministerium des Äußeren, des Inneren ab, sucht das Fremdenblatt, die Hypothekenbank heim, klingelt vor den Hagel- und Feuerversicherungen und rennt den Boten der Aktienbank über den Haufen. Wieder ein Hindernis! Er durch­rennt alle Räume eines vierstöckigen, breitschultrigen Gebäudes und findet den Adressaten nicht. Die Adresse ist so schlecht geschrieben, dass sie ein Dorn­gesträuch in Umrissen darzustellen scheint. Der Arme entziffert und lässt entziffern. Da schlägt die Uhr der Dreifaltigkeitskirche die volle Stunde. Der Briefträger zuckt empor, als würde er von einer Tarantel gestochen. Er muss in fünf Minuten wieder in der Expedition sein, und noch harren ganze Briefberge der Abtragung. Und weiter geht es im scharfen Trab. Hier ist der Adressat nicht zu Hause und hat keinen Briefkasten an der Tür, und dort soll ein Groschen Porto bezahlt werden, und man gibt einen Fünf­und­zwanzig­taler­schein zum Wechseln. Hier hindert die mangelnde Treppenbeleuchtung den Briefträger am raschen Vordringen in die Dachmansarden, und dort stößt er sich an der niedrigen Wölbung des ›halb­düsteren‹ Kellerlochs regelmäßig den Kopf, so oft er in den wein­geist­schwan­geren Tartarus hinabsteigen muss.

Schweißtriefend, keuchend, durchnässt, nach Wasser und Bier lechzend, kommt er wieder in der Expedition an. Die Karriole, welche eine neue Post gebracht, ist bereits wieder davongefahren, und die Briefträger teilen sich oben in ihren Inhalt. Er muss abermals an der Mahlzeit teilnehmen, aber noch vorher über die unzustellbaren Briefe berichten und dafür Sorge tragen, dass die Adresse, welche ein Dorn­gesträuch in Umrissen darstellt, der Revier­polizei, dem Einwohnermeldeamt oder der Brieföffnungskommission zur Entzifferung vorgelegt wird.

Der Postkoloss in der Königs- und Spandauer Straße hat aber noch einen Onkel in der Oranienburger Straße, dessen Stärke nach Pferdekräften zählt. Er gibt in der Weihnachtszeit Extravorstellungen auf dem Kraftmesser und spielt unter anderen mit den schwersten Paketen, wie der gewandteste Gaukler mit Billardkugeln. Wer von ihm unversehens einen Rippenstoß bekommt, der muss sich nach der Charité schleppen lassen. Seht, da schickt er eben seinen Berliner Mündeln etwas Spielzeug. Vier, fünf, sechs, sieben, acht Paketwagen schwanken auf die Straße. Hoch oben auf dem Bock thront der Rosse­lenker mit empor­geschla­genem Mantelkragen und lässt sich die höhere Berliner Luft um die Ohren sausen. Drinnen im Paketwagen sitzt der Expedient eingepfercht wie in einem Kerker. Fällt der Wagen um, so wird er augenblicklich vom Gepäck erstickt. Ha! die Rosse können nicht von der Stelle, denn dort an der Kreuzung ist die Straße von einem Wagenchaos von allen Formen und Dimensionen gesperrt. Lange Bierwagen mit Rollfässern über und unter der Achse, Omnibusse mit dicken Passagierknäueln auf dem Verdeck, bunträdrige, geschmeidig und elegant sein wollende Coupés mit einer bepelzten Geheimrätin und einem ungeduldigen Geldaristokraten darin, drängen sich mit Brief­karriolen, Dampf­kaffee­brenne­rei­phaetons, Droschken, Magi­strats­akten­wagen und Hoff­malz­extrakt­fahr­zeugen. Nun, Postillion, nimm dein Horn und stoß hinein, wie weiland Roland im Tal von Ronceval, und hilft das nichts, so renn mit deinem zentner­wie­genden Fuhrwerk eine Gasse durch die Wagenburg! Er lächelt, der Schelm, denn der Omnibus dort ist noch schwerer wie er, und das minder Wichtige zerschellt immer an dem Gediegeneren hienieden. Endlich schießt der lange Bierwagen wie ein Riesenpfropfen aus der Verkorkung. Der erste Omnibus bewegt sich. Das Hoffsche Malz­extrakt­gespann bäumt sich. Der zweite Omnibus drängt das Dampf­kaffee­brenne­rei­phaeton in den Rinnstein. Von dem Bock des Postpaketwagens schmettert eine Siegesfanfare hernieder.

Die Verstopfung ist gehoben, und während die Gespanne nach allen Seiten aus­einander­schnaufen, flucht der Paket­expedient in der Einsamkeit seines Kerkers wie ein schnauz­bärtiger Polizeidiener aus den vierziger Jahren, und stößt ein Paket, welches so hart auf ihm liegt, dass es ihm den Atem benimmt, zornig in die Gepäckordnung zurück. Dabei fällt aber ein anderes, welches nach altem Limburger Käse duftet, auf seine Brust. Die einmal gestörte Gepäckordnung ist in der Sturm- und Drangperiode so leicht nicht wieder herzustellen.

Ein Paketsturz hat einen anderen zur Folge. Das Schlimmste ist aber ein Paketrutsch in einem Gepäckwagen, der nur noch Platz für die dünne Gestalt eines Expe­dienten hat. Ein Glück, dass der Paketwagen in diesem Augenblicke hält! Der Rutsch will eben vor sich gehen und den Expe­dienten vergraben, wie der Bergsturz des Rossbergs im Anfange dieses Jahrhunderts das Dorf Goldau am Rigi verschüttete. Da öffnet der Postbeamte rasch die Wagentür, wirft sie hinter sich zu und springt auf das Trottoir. Der Sturz geht jetzt im Inneren des Wagens vor sich, ohne ein Menschenleben zu ersticken. Jetzt – ja, aber was kommt jetzt? Jetzt kommt die Hauptweihnachtsfreude der Berliner Post. Aus dem Paketrutsch und der auf den Kopf gestellten Gepäckordnung soll ein Riese, ein Hundert­pfund­paket, hervorgesucht und drei Treppen hoch, an dunkler Gas- und geplatzter Wasserleitung vorbei, geschleppt werden. Soll ich hier den Kampf eines schmächtigen Post­expe­dienten mit einem Hundert­pfund­paket schildern? Habt ihr schon gesehen, wie ein Windhund einen verendeten Hirsch bergauf zerrte? Nun, dann knackt eure Weihnachtsmandel und lasst mich in Ruhe! – Die Paketbestellung erfolgt nicht stundenweise, wie die Briefbestellung. Es werden täglich fünf Fahrten gemacht, und das dünkt mich, dürfte auch genug sein. Die erste Fahrt ist von 7½ – 10½ vormittags mit den abends vorher und nachts eingegangenen Paketen. Die zweite Fahrt findet von 8½ – 11 vormittags statt mit den morgens früh eingegangenen Paketen. Die dritte Fahrt ist von 12½ mittags bis 3½ nachmittags mit den vormittags bis 11 Uhr eingegangenen Paketen. Die vierte Fahrt dauert von 2½ – 5½ nachmittags und räumt mit den übrigen vormittags und bis 1 Uhr mittags eingegangenen Paketen auf. Die fünfte Fahrt umfasst die Zeit von 5½ nachmittags bis 8½ abends, und beseitigt die nachmittags eingegangenen Pakete.

Der Berliner Postkoloss bewältigte 239 104 Pakete vom 18. – 24. Dezember 1867. Berlin allein fütterte ihn mit 90 743 Paketen und ließ sich von ihm wieder füttern mit 73 227 Paketen. Die übrigen Pakete wurden über Berlin hinweg von Bahnhof zu Bahnhof expediert. Die in derselben Zeit angekommenen und abgegangenen frankierten, unfrankierten und portofreien Briefe, Geld- und Wertsendungen, Postvorschüsse, Drucksachen, Warenproben und Zeitungen harren noch des Zählapparats, und wenn sich jetzt noch die Berliner Post über karge Weihnachtsfreuden beklagt, verdienen sämtliche Postexpeditionen so lange mit Hundert­pfund­paketen bombardiert zu werden, bis sie in Schutthaufen verwandelt sind.

• Auf epilog.de am 26. Dezember 2024 veröffentlicht

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