Bau & ArchitekturTunnel

Der Tunnel zwischen Gravesand und Rochester

Pfennig Magazin • 12.12.1835

Obgleich die Idee, unterirdische Kanäle oder sogenannter Tunnel zur Erleichterung des Verkehrs anzulegen, keineswegs eine ganz neue ist, sondern schon unter Ludwig XIV. von einem französischen Ingenieur, Namens Regnet, wohl zuerst in Anwendung gebracht ward, indem er den Kanal von Languedoc durch einen Berg leitete, so hat sich doch erst seit dem großartigen Unternehmen des berühmten Brunel, einen  Tunnel unter der Themse bei London zu erbauen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf den unterirdischen Gewölbe- oder Tunnelbau gelenkt. Tunnel Gravesand RochesterAnsicht des Tunnels zwischen Gravesand und Rochester. So bewundernswert und, wenn man die zu besiegenden Hindernisse bedenkt, fast unglaublich auch die Tunnel erscheinen, die schon früher in England vollendet wurden, wie z. B. der Tunnel unweit Manchester im Bridgewater-Kanal und der durch den Hügel von Harecastle in Staffordshire führende, zu Vereinigung der Trent- und Merseyschiffahrt, so übersteigt diese doch noch an Umfang und Schwierigkeit der Tunnel, der für den Themse- und Medwaykanal zwischen Gravesand und Rochester angelegt wurde, zu Vermeidung eines Umwegs, den sonst die Handelsfahrzeuge machen mussten, um nach London zu gelangen. Dieser Kanal, der 2 m Wasser hat, fängt bei dem südlichen Ufer der Themse in dem Kirchspiel Milton an, und geht über 1½ Stunden lang anfangs durch einen ebenen Boden, meistens Marschland. Dann ist er eine Stunde weit durch einen Kreidefelsen gearbeitet, und zwar so grade, dass man von einem Ende zum anderen hindurchsehen kann. Die Weite der Aushöhlung beträgt 9 m, von denen der Kanal 7,3 m einnimmt, die übrigen 1,7 m aber zu einem Fußsteig übrig gelassen sind, der mit einem starken Geländer versehen ist.

Man hat es nicht für nötig gehalten, außer an manchen Stellen, noch besondere Bogen zu erbauen, so fest ist der Stein, durch welchen der Kanal gearbeitet ist. Die Höhe der gewölbten Decke ist mehr als 4½ m über der Oberfläche des Fußsteigs erhaben. Dass es nicht ganz finster darin ist, wie man erwarten sollte, rührt größtenteils von der Reflexion des Lichts der weißen Kreidedecke her. Wäre der Tunnel dagegen mit Backsteinen ausgewölbt worden, so würde es nötig geworden sein, irgendeine künstliche Beleuchtung anzubringen.

Der Eindruck, den es auf den Fremden macht, wenn er diesen Gang betritt, ist großartig und steigert sich, je weiter das Tageslicht zurückweicht. Der Widerschein des Kreidefelsens auf der klaren Oberfläche des Wassers scheint die Größe des Tunnels zu verdoppeln und der gänzliche Mangel eines anderen Lautes, außer dem des langsamen, abgemessenen Schrittes der Zugtiere, welche die Schiffe ziehen und dem leisen Plätschern der Wellen, all dies vereinigt sich, ein Gefühl des Erhabenen in dem Wanderer hervorzubringen.

Die Fahrzeuge können nur zu bestimmten Stunden von beiden Enden in den Tunnel einlaufen, weil es die Breite desselben nicht gestattet, dass sich zwei begegnende Fahrzeuge ausweichen können.

Die Arbeiten an diesem großartigen Unternehmen dauerten aus mancherlei Ursachen über 20 Jahre. Das Kapital dazu ward durch Aktien zusammengebracht, allein obwohl für das allgemeine Beste von großem Nutzen, hat sich diese Spekulation doch für die Unternehmer nachteilig erwiesen. Am stärksten ist die Benutzung des Kanals während der Hopfenernte, da die Hopfenbauer aus Kent durch denselben im Stande sind, ihren Hopfen in 24 Stunden auf den Markt von London zu bringen.

• Auf epilog.de am 19. Oktober 2024 veröffentlicht

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