VerkehrSchifffahrt

Die Tauerei oder Drahtseil-Schleppschifffahrt auf der Spree

Das Buch für Alle • 1878

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Unter dem Worte Tauerei versteht man diejenige Verbesserung der Schleppschifffahrt, welche an die Stelle der gewöhnlichen Beförderung von Lastschiffen mittelst des Schlepptaues von Dampfbooten, sogenannten Remorqueurs, getreten ist. Die gewöhnliche Schleppschifffahrt mittels Remorqueurs bewährt sich auf größeren Strömen von ziemlicher Tiefe und Breite und geringer Strömung; auf kleineren Gewässern dagegen, welche nur geringe Tiefe, aber beträchtliche Strömung haben, und auf Kanälen ist die Schleppschifffahrt durch Remorqueurs sehr unzweckmäßig, weil den Schaufelrädern oder Schrauben der Dampfer daselbst zur Fortbewegung im Wasser die größere Wassermasse und somit der feste Angriffspunkt fehlen und hierdurch eine allzu bedeutende Summe von bewegender Kraft, beziehungsweise von der Arbeit verloren geht, welche die Betriebsmaschine überträgt.

Weit vorteilhafter dagegen bewährt sich das neue System der Ketten- oder Drahtseil-Schleppschifffahrt, bei welchem die auf dem Schiff stehende Dampfmaschine Trommeln in Umdrehung versetzt, um welche man eine Kette oder ein Seil mehrmals schlingt, während diese Kette oder Seil in dem ganzen vom Schiff zu durchfahrenden Flussbett am Boden hin fortläuft, bzw. ausgelegt und an den beiden Endpunkten an jenem genügend befestigt ist. Kette oder Seil besitzt also die gleiche, in der Regel viele Meilen umfassende Länge, wie die zu durchfahrende Flussstrecke. Das Seil wird während der Fahrt am Vorderteil des Schiffes aus dem Strom emporgehoben, läuft dann über das Dampfboot hinweg und um die Trommeln herum und sinkt dann am Hinterteil des Schiffes wieder ins Wasser zurück. Durch die Umdrehungen der Trommeln findet auf der einen Seite eine fortwährende Aufwicklung und auf der anderen Seite eine desgleichen Abwickelung des Drahtseils statt, so dass die Umdrehungen der von letzterem fest umschlungenen Trommeln bewirken, dass sich das Dampfschiff an dem Drahtseil sozusagen fortzieht. Der auf diese Weise bewegte Ketten- oder Seildampfer ersetzt nun den Remorqueur und dient in seiner Weise als Schleppschiff, um die ihm angehängten Lastschiffe gegen den Strom zu befördern.

Die ursprüngliche Erfindung dieses Systems wird dem Marschall Moritz von Sachsen beigemessen, welcher 1732 die ersten derartigen Versuche anstellen ließ. Im Großen ward der Gedanke aber erst 1820 verwirklicht, auf der Saône bei Lyon durch Tourasse und Courteaut, deren Schleppschiffe einen sechsspännigen Pferdegöpel trugen, durch welchen ein Hanfseil auf eine weite Trommel aufgewunden wurde. Da das andere Ende des Seiles in einer Entfernung von etwa einem Kilometer am Ufer befestigt war, so musste, sobald das Seil vollkommen aufgewunden war, dasselbe wieder abgewickelt und dafür ein zweites, in gleicher Entfernung am Ufer befestigtes Seil aufgewunden werden. So mangelhaft diese Einrichtung auch noch war, so bewährte sie sich doch dem Prinzip nach als richtig und vervollkommnete sich besonders durch die Anwendung einer in das Strombett gelegten eisernen Kette, welche statt des Seiles aufgewunden wurde. Diese von Rigny auf der Seine bei Rouen eingeführte Verbesserung aber gewann seit 1853 durch Anwendung der Dampfkraft zur Umdrehung der Trommel so sehr an Bedeutung, dass die Kettenschifffahrt nach diesem Prinzip bald auch auf anderen französischen Flüssen und Kanälen eingeführt wurde und sich nach Belgien und Holland und seit 1866 auch nach Deutschland verbreitete, indem die Hamburg-Magdeburger Dampfschifffahrts-Gesellschaft zu Magdeburg zunächst einen Versuch mit der Ketten-Schleppschifffahrt auf der gut 6 km langen Elbstrecke zwischen Neustadt-Magdeburg und Buckau machte. Dieser Versuch hatte einen solchen Erfolg, dass die Rentabilität wie die Anwendbarkeit der Tauerei auf den meisten schiffbaren Flüssen Deutschlands damit außer Zweifel gesetzt, 1871 die ganze Strecke von Magdeburg bis zur böhmischen Grenze eröffnet und 1873 auch die Strecke auf der Saale von deren Mündung bis Kalbe in Betrieb gesetzt wurde. Statt der Kette indes, welche zwar dauerhafter, aber bedeutend schwerer und teurer ist, verwendet man neuerdings fast allgemein Drahtseile von Eisen- und Stahldraht nach dem System von Hion und von 25 – 35 mm Durchmesser. Diese haben den Vorteil größerer Leichtigkeit, Wohlfeilheit und Geschmeidigkeit, rollen sich leichter, rascher und geräuschloser auf und verursachen auf dem Schleppschiffe weniger Erschütterung, während die Ketten durch Lärm und Erschütterung unbequem werden.

Drahtseil-Schleppschifffahrt auf der SpreeDrahtseil-Schleppschifffahrt auf der Spree.

Die wesentlichsten Vorteile der Tauerei sind zunächst Zeitgewinn und geringere Frachtkosten wegen des bedeutend kleineren Kohlenverbrauchs der Tauerschiffe gegenüber von den gewöhnlichen Remorqueurs, wegen der geringeren Anforderungen an Bedienung (kaum ein Drittel der gewöhnlichen Schleppdampfschiffe) und wegen der Möglichkeit einer stärkeren Belastung der Schleppkähne, da diese weder Masten noch Takelage bedürfen. Dazu kommt noch der Vorteil, dass der starke Wellenschlag vermieden wird, welchen die Raddampfer erzeugen, und dass man mit der Tauerei auch auf den gekrümmtesten Stromstrecken sicher fahren kann. Die Tauerei ist daher auf dem Main, Neckar, der Oder, Weser, Havel und Spree teils schon in Betrieb, teils in Aussicht genommen, und unser Bild veranschaulicht einen Zug von Schleppkähnen mit dem dazu gehörigen Dampfschleppschiffe auf der Spree nach dem System der Ingenieure F. J. Meyer und W. Wernigk in Berlin, welches für die Flussgebiete der Havel, Spree und Oder adoptiert worden ist, und welchem die Anwendung des Drahtseils zu Grunde liegt.

Das kleine Schleppschiff von 40 – 50 PS und ungefähr 50 cm Tiefgang vermag bei einem Kohlenverbrauch von 100 kg je Stunde 20 Schleppkähne mit je 100 t Ladung gegen eine Strömung von einem Meter per Sekunde mit einer Fahrgeschwindigkeit von 4½ – 5 km/h zu schleppen, was eine ungeheure Arbeitsleistung ist, denn zur Beförderung auf der Eisenbahn wären hierzu 200 Waggons und mindestens fünf Lokomotiven von je 200 PS erforderlich, die dann allerdings auch dreimal so schnell fahren würden. Dagegen kostet der Bau der Eisenbahnen ungeheure Summen, das Fahrwasser der Flüsse aber gar nichts. Durch Patente geschützt, wird dies System demnächst auch in Nordamerika, in den britischen Kolonien Ostindiens und in Australien zur Anwendung gelangen.

• Auf epilog.de am 18. Mai 2025 veröffentlicht

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