Feuilleton – Land & Leute
Der Strohwitwerzug
Berliner Leben • August 1904
Während der Badesaison fährt vom Stettiner Bahnhof jeden Sonnabend so um 6 Uhr nachmittags herum ein Zug ab, der eine ganz besondere Physiognomie hat; seine Passagiere gehören nämlich fast ausschließlich dem stärkeren Geschlecht an. Sie rekrutieren sich sämtlich aus dem vergnüglichen Stande der Strohwitwer und es ist für den vom gleichen Los nicht betroffenen höchst amüsant, die verschiedenen Grade von Schnelligkeit und Eifer zu beobachten, mit dem sie dem Beförderungsmittel zustreben, das sie ihrer am sonnendurchglühten Ostseestrande weilenden besseren Hälfte zuführen soll.
Man erblickt da junge Männer, die mit einem riesigen Strauss und tausend Schachteln und Paketen, die sie fortwährend zählten, bepackt ungeduldig die Zugverspätung verwünschen, die jeder normale preußische Eisenbahnzug schon auf der Abgangsstation haben muss, weil sie das Wiedersehen mit dem geliebten Weibchen um so viele Minuten verzögert. Man sieht auch andere, die sich mürrisch in eine Coupeecke werfen und verdrießlich an die lange Nachtfahrt im überfüllten Zuge und die Anstrengungen des kommenden Tages denken. Plötzlich fahren sie erschreckt zusammen und fassen in die linke Westentasche, wo der Symbol ihrer Gefangenschaft seit der Abreise der teuren Gattin ein verschwiegenes Dasein gefristet, hat und mit wehmütigem Seufzer stecken sie den Goldreifen an den Finger. Diese Kategorie ist besonders dadurch kenntlich, dass sie über die erste Jugend hinaus ist, sich einer beträchtlichen Leibestülle erfreut und in der Kunst, die letzten Überreste ihres ehemaligen Haupthaares so zu ordnen, dass es aussieht, als ob sie noch mehr hätten, die höchste Vollkommenheit erreicht haben. Aber der Zug geht endlich ab, nachdem sämtliche Beamte auf geheimnisvolle Weise eine Zeit lang umhergerannt sind, zusammengekommen und wieder auseinandergelaufen sind. In diesem Augenblick will der junge Ehemann, den wir schon eine Weile mit Besorgnis beobachtet haben, aus dem Coupe stürzen; ihm ist plötzlich eingefallen, dass er die Hauptsache, den neuen Hut, den ihm sein geliebtes Weibchen so auf die Seele gebunden, im Wartesaal hat liegen lassen. Aber seine Mitreisenden reißen ihn rechtzeitig zurück und er setzt seine Fahrt fort, ebenso niedergeschlagen wie er vorher ungeduldig war, während ihm ein älterer listig blinzelnder Herr Ratschläge erteilt, wie man eine schmollende Gattin besänftigt.
