Verkehr – Nahverkehr
Straßenbahnen mit Güterverkehr in Mülhausen
Zentralblatt der Bauverwaltung • 27.5.1882
Eine sehr hübsche und bemerkenswerte Straßenbahnanlage geht in Mülhausen i. E. ihrer Vollendung entgegen. Das nahezu 22 km lange Bahnnetz stellt eine Verbindung vom Rhein-Rhone-Kanal und dem neuen Hafenbecken einerseits, und andererseits von den beiden Bahnhöfen Mülhausen und Dornach nach den zahlreichen Fabriken her, welche in der Stadt selbst und auf beiden Ufern der Ill rings um die Stadt gelegen sind. Die Bahn wird mit Dampfwagen befahren, deren auf vier Achsen verteiltes Vollgewicht 15 t beträgt. Die beiden Mittelachsen sind als Triebachsen miteinander gekuppelt. Die beiden Endachsen können sich gegen die Mittelachsen verstellen. Die Entfernung der Mittelachsen misst 1 m, ihr Abstand von den Endachsen 0,80 m. Auch die Wagen, deren Radstand 1,20 m beträgt, haben bewegliche Achsen. Auf diese Weise ist es möglich, die Bahnzüge durch besondere Gleisanschlüsse mittels Kurven bis zu 15 m Radius bis in das Innere sehr enger Fabrikhöfe zu führen. Die Spurweite der Bahn beträgt 1 m. Jeder Zug von 3 – 4 Wagen schleppt 16 – 22 t Güter. Auf jeden Dampfwagen kommen 9 – 12 Güterwagen von 5,5 t Ladefähigkeit; 3 – 4 Wagen sind an der Einladestelle, 3 – 4 Wagen an der Abladestelle, 3 – 4 Wagen unterwegs. Die Dampfwagen selbst sollen beständig in Bewegung bleiben.
Die Gleisanlage ist bereits zum größten Teil fertiggestellt, wenn auch nur zum kleineren Teil dem Betrieb probeweise übergeben. Vorläufig vermittelt die Straßenbahn ausschließlich den Kohlenverkehr zwischen dem neuen, mit dem Rhein-Rhone-Kanal in Verbindung stehenden Hafenbecken und einigen Fabriken. Zunächst sind vier Dampfwagen mit 36 Güterwagen im Dienst. Bis zur vollständigen Betriebseröffnung soll die 3- bis 4fache Anzahl beschafft werden. Am neuen Hafenbecken hatte vor längerer Zeit ein Privatunternehmer zwei bewegliche Dampfkräne aufgestellt, welche mit Hilfe von Klappkästen die zu Schiff ankommenden Kohlen in Kohlenrutschen entluden, von wo sie durch Landfuhrwerke entnommen wurden. Da jeder Kran in der Stunde etwa 30-mal die 1 t haltenden Klappkästen hebt und entleert, so kann man mit den beiden Kränen in 10 Arbeitsstunden drei Kohlenschiffe mit je 200 t Steinkohlen entladen. Die Landfuhrwerke vermochten jedoch bei schlechtem Wetter, da alsdann die fast überall nur mit Kieslage versehenen Straßen der Stadt Mülhausen nahezu grundlos wurden, die Kohlenrutschen nicht rasch genug zu entleeren. Übelstände verschiedener Art, welche hierdurch veranlasst wurden, gaben die erste Anregung zur Anlage des neuen Straßenbahnnetzes.
In Westen der Stadt liegt längs einer Verbreiterung des Rhein-Rhone-Kanals das Hauptdepot, und zwar zwischen dieser Wasserstraße, welche mittels Drehbrücke überschritten wird, und den Linien der Reichseisenbahn. Die Gleisanlage ist derart angeordnet, dass die Kanalschiffe sowohl unmittelbar in die Wagen der Hauptbahn als auch in die der schmalspurigen Straßenbahn entladen können. Ferner ist für den Überladeverkehr aus den Straßenbahnwagen in die Wagen der Hauptbahn und umgekehrt ausreichend gesorgt. Wagen- und Lokomotivschuppen, Reparaturwerkstätte und Verwaltungsgebäude sind bereits fertiggestellt. Dagegen fehlt sowohl hier als in Dornach noch der beabsichtigte und nach längeren Verhandlungen auch genehmigte Anschluss an die Hauptbahn.
Das Oberbausystem innerhalb der städtischen Straßen ist das von derselben Unternehmergesellschaft auch in Rappoltsweiler und Straßburg mit gutem Erfolg angewandte System Demerbe (U-förmige Stahlschienen). Das Betriebsmaterial wird von der Schweizerischen Lokomotiv-Maschinen-Fabrik Winterthur geliefert.
Die in ihrer Art bis jetzt einzig dastehende Straßenbahnanlage, die nur in untergeordneter Weise dem Personenverkehr, in der Hauptsache aber dem Kohlenverkehr vom Kanal zu den Fabriken und dem Stückgutverkehr von den Fabriken zur Bahn, sowie zwischen den Fabriken untereinander, dienen soll, beansprucht in jeder Beziehung Anerkennung und Beachtung.