Bau & Architektur – Brücken
Die Riesenbrücke bei Müngsten
Das Neue Universum • 1899
Mit der im Sommer des Jahres 1897 vollendeten Bogenbrücke über das Wuppertal zwischen Solingen und Remscheid hat die deutsche Technik für einige Zeit einen unübertroffenen Höhepunkt der Brückenbaukunst bezeichnet. Die beiden gewerbefleißigen Städte Solingen und Remscheid, obwohl die industrie- und verkehrsreichsten im Bergischen Land, und obwohl nur durch eine Entfernung von 11 km getrennt, entbehrten doch bisher einer direkten Eisenbahnverbindung. Vielmehr musste der gesamte Verkehr, so weit er sich auf der Bahn abspielte, den Weg über Barmen und Elberfeld nehmen und damit einen fast fünffachen Umweg.
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Die Hauptschwierigkeit einer direkten Verbindung beider Städte lag eben in dem gebirgigen Terrain, welches sie trennt, und vor allen Dingen in dem mächtigen Spalt, den das Tal der Wupper in einer Tiefe von mehr als 100 m und einer Breite von 400 – 500 m in das dazwischenliegende Gelände reißt. Zum Überspannen dieser Kluft dient nunmehr eine stählerne Brücke, die besonders in ihrem mittleren, den tiefsten Punkt des Tales überschreitenden Bogen wahrhaft gigantische Verhältnisse besitzt. Das stolze Bauwerk, welches bei seiner Einweihung am 15. Juli 1897 den Namen ›Kaiser-Wilhelm-Brücke‹ erhielt, liegt mit seinem Scheitelpunkt und seinen Schienengeleisen rund 105 m über dem mittleren Wasserstand der Wupper und schwingt sich zu dieser Höhe durch einen einzigen kolossalen Bogenträger empor. Die beiden Füße dieses Bogens stützen sich auf gewaltige Fundamente, die im unteren Drittel der Talabhänge zu beiden Seiten hergestellt worden sind. Auf denselben Fundamenten erheben sich zwei 65 m hohe stählerne Pfeiler, welche im Verein mit vier anderen von 25 – 45 m Höhe, auf den oberen Talhängen stehend, die beiden äußeren Drittel der Brückenkonstruktion tragen. Der mittlere Teil derselben ruht in einer Länge von 170 m ganz allein auf den beiden höchsten Pfeilern und dem zwischen ihnen in derselben Breite sich wölbenden Mittelbogen. Die beiden Hälften des letzteren sind von den Fundamenten aus frei in die Luft hinausgebaut worden, und so genau war die Berechnung, dass beim Zusammentreffen der beiden Hälften im beweglichen Scheitelgelenk auch nicht die Abweichung eines Zentimeters vorhanden war. Das Bild zeigt die in der Nähe des Dörfchens Müngsten liegende Brücke in ihrem letzten Stadium, unmittelbar vor der Fertigstellung.
Es war eine der interessantesten, aber auch schwierigsten Arbeiten, die bisher in der Technik des Eisenbaues vorgekommen sind, die gewaltige Last dieses kolossalen Bogens, im ganzen 1700 Tonnen, ohne Stützen und Rüstung in den schwindelnd hohen Raum der mittleren Öffnung hineinzufügen. Die Fuß- und Stützpunkte des Bogens wurden hinreichend stark mit den Sockeln der auf demselben Fundament stehenden Pfeiler verbunden, um als ein einziges Konstruktionsglied mit ihnen angesehen zu werden. So konnten die schweren, 65 m hohen Stahltürme, welche oben überdies bereits mit dem Gewicht der Träger und der Fahrbahn belastet waren, gleichzeitig als Gegengewicht benutzt werden, um die riesige, weiter und weiter in den freien Raum hinauswachsende Last auszubalancieren.
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Trotzdem war vorauszusehen, dass schließlich die Last der freischwebenden Bogenhälften das Übergewicht bekommen und Sockel und Pfeiler trotz aller Verankerungen nach der Mitte überkippen würden. Es wurde deshalb jeder Bogen während des Baues in seinem unteren Drittel durch vier mächtige Drahtseile, von denen im Notfall eines ausgereicht haben würde, mit der Talwand selbst verankert, indem man die anderen Enden der Seile tief in den Felsen hineinführte und hier an großen Stahlblöcken befestigte. Die Abbildung lässt deutlich erkennen, wie unter diesen Vorbedingungen der Bau gefördert wurde. Große Kräne, auf der Spitze des mit dem Bogen gleichzeitig vorgestreckten Gleises stehend, hoben die einzelnen Arbeitsstücke empor, welche auf einer 30 m über der Talsohle liegenden provisorischen Arbeitsbrücke herangefahren wurden. Diese vorbereiteten Arbeitsstücke wurden dann von den an der Eisenkonstruktion, wie Schwalben im Dachgerüst, haftenden Arbeitern an das bereits fertige Stück angefügt. Dass bei der Arbeit in dieser schwindelnden Höhe einzelne Unglücksfälle nicht zu vermeiden waren, ist gewiss zu bedauern. Indessen haben dieselben an Zahl die bei ähnlichen Ausführungen vorkommenden nicht übertroffen. Gleich beim Beginn des Baues musste man auch noch dem Umstand Rechnung tragen, dass sich jede Bogenhälfte nach ihrer Vollendung durch das eigene ungeheure Gewicht um ein bestimmtes Maß nach der Mitte zu senken und dabei die auf dem gemeinsamen Fundament stehenden Mittelpfeiler um ebenso viel schief richten würde. Man begegnete diesem Umstand dadurch, dass man die Pfeiler von vornherein beim Bau um das zu erwartende Maß nach außen neigte, so dass sie dann, als die früher erwähnten Drahtseilverankerungen gelöst wurden und die Bogenhälften sich senkten, gleichzeitig eine genau lotrechte Stellung annahmen. Das Gesamtgewicht der Brücke beträgt über 4000 Tonnen.