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Die pneumatische Eisenbahn in Sydenham

Illustrirte Zeitung • 8.10.1864

Voraussichtliche Lesezeit rund 7 Minuten.

An einem der letzten Sonnabende war das Terrain des Kristallpalastes zu Sydenham der Schauplatz eines neuen und höchst interessanten Versuchs. Es wurden nämlich in Gegenwart mehrerer berühmter Ingenieure und Männer der Wissenschaft einige Probefahrten auf der kürzlich hier angelegten pneumatischen Eisenbahn mit bestem Erfolg ausgeführt. Zu diesem Behufe ist ein Tunnel aus Backsteinen gebaut worden. Derselbe besitzt eine Höhe von ungefähr 3 m, eine Weite von 2,7 m, hat eine Fahrbahn von Schienen und vermag die größten Waggons, welche auf der Great Western Eisenbahn benutzt werden, aufzunehmen; er ist an jedem Ende mit Toren oder Klappen zum Öffnen oder Verschließen versehen, sowie mit allen erforderlichen Apparaten, um einen Personenzug nach dem pneumatischen Prinzip zu bewegen. Der Tunnel erstreckt sich von der Einfahrt in das Sydenham-Gebiet bis nach den Gründen von Armoury, in der Nähe von Pengegate, das ist eine Entfernung von 550 m. Diese Versuchslinie ist hauptsächlich angelegt worden, um sowohl die Träger der Wissenschaft als auch das reisende Publikum durch die Tatsache von der Möglichkeit zu überzeugen, dass sich die bewegende Kraft, welche von der pneumatischen Depeschenbeförderungs-Compagnie bereits zur Beförderung von Briefen und Paketen benutzt wird, auch für  Personentransporte anwenden lässt.

Das pneumatische Prinzip zur Bewegung ist sehr einfach. Es ist mit der Wirkung eines Blasrohres verglichen worden. Man wird diesen Vergleich vielleicht roh finden und doch ist er für die populäre Darstellung ganz passend. Man denke sich den Tunnel als das Rohr, den Wagenzug als die Erbse, welche in dem Rohr durch einen kräftigen Luftstrom vorwärts, durch Ansaugung der Luft rückwärts getrieben wird, so hat man das treue Bild der pneumatischen Eisenbahn.

Die Waggons werden in der Tat durch den Tunnel von der einen zur anderen Station hingeblasen und die Rückfahrt geschieht infolge der Ansaugung von Luft. Man darf jedoch nicht glauben, dass die Reisenden mit einem plötzlichen Ruck an ihren Bestimmungsort gelangen, wie dies mit der Erbse in dem gegebenen Gleichnis der Fall ist. Eine solche Unbequemlichkeit wird durch die angebrachten mechanischen Vorrichtungen vollständig verhindert. Die Bewegung ist eine sanfte, leichte und angenehme und auch die Hemmung wird unmerkbar und allmählich ausgeführt. Zu der Fahrt in dem 550 m langen Tunnel wurden sowohl hin als zurück nur ungefähr 50 Sekunden Zeit gebraucht, und zwar mittels Anwendung eines Luftdrucks von nur 10 g/cm². Man kann jedoch leicht eine noch größere Schnelligkeit erzielen. Dabei gewährt diese Art der Bewegung den großen Vorzug, dass man nie der Gefahr des Zusammenstoßens zweier Züge ausgesetzt ist, weil die bewegende Kraft auf einmal nur nach einer Richtung hin möglich ist. Der schlimmste Unfall, welcher auf einer solchen Bahn passieren kann, ist, dass infolge einer plötzlichen Beschädigung der Maschinen, der Zug mitten im Tunnel zum Stillstand kommen könnte. In einem solchen Falle müssten dann die Passagiere aus den Wagen steigen und den Ausweg aus dem Tunnel zu erreichen suchen. Ob nun hierbei möglicherweise ein anderer Zug abfahren kann, bevor die Verunglückten den Ausgang aus dem Tunnel erreicht haben oder ob ihnen dasselbe Schicksal bevorsteht, wie Fröschen, welche unter die Glocke einer Luftpumpe gesetzt werden, wagen wir nicht zu entscheiden, glauben jedoch, dass der intelligente Unternehmer im Stande sein wird, gegen das Eintreten einer solchen Gefahr zu garantieren.

Pneumatische Eisenbahn

Der an jenem Sonnabend benutzte Zug bestand nur aus einem sehr langen, geräumigen und bequemen Wagen, welcher einem verlängerten Omnibus glich und 30 bis 35 Passagiere aufzunehmen vermochte. Die Passagiere können an jedem Ende des Omnibusses ein- und aussteigen und die Eingänge zum Wagen sind durch Schiebetüren von Glas verschließbar. Hinter dem Wagen und an demselben gut befestigt, befindet sich eine Wand von derselben Form und ziemlich der dem Durchschnitt des Tunnels entsprechenden Größe. Der äußere Rand dieser Wand ist mit einem Besatz von Borsten versehen, welche ringsherum eine dicke Bürste bilden. Wenn sich der Wagen in dem Tunnel fortbewegt, so stößt diese Bürste fest an das gewölbte Mauerwerk an und bildet einen genügenden Verschluss, um das Entweichen von Luft zu verhindern. Mittels dieses äußerst sinnreichen elastischen Kragens wird der Wagen einem Kolben gleich, gegen welchen die Luft ihren Druck auszuüben vermag. Die bewegende Kraft selbst wird auf folgende einfache Weise hervorgebracht: An der Abfahrtstation wird ein großes Windrad (eine Art Ventilator), welches aus einer konkaven Scheibe von 6,7 m Durchmesser besteht, in rotierende Bewegung gesetzt, wozu eine kleine dort aufgestellte Dampfmaschine dient. Man lässt das Rad so schnell rotieren als nötig ist, um eine Pressung der Luft hervorzubringen, welche genügt, den schweren Wagen auf einer Bahn fortzutreiben, die steiler ansteigt als bis jetzt irgendeine der bestehenden Eisenbahnen. Die Scheibe rotiert in einem eisernen Gehäuse, welches dem eines gewaltigen Schaufelrades gleicht und von seiner breiten Peripherie werden die Luftteilchen in heftigen Strömen fortgetrieben. Wenn die Luft hierdurch nach dem oberen Ende des Tunnels getrieben worden, um den abfahrenden Zug zu treiben, so strömen sofort neue Luftmassen nach der Oberfläche der Scheibe, um die entstandene Luftleere zu ersetzen. Wenn dagegen die Windscheibe dazu benutzt wird, um die Luft aus dem Tunnel zu saugen, um dadurch die Rückfahrt des Zuges zu bewirken, so strömt die Luft aus den Öffnungen des Radgehäuses gleich einem künstlichen Orkan; die in der Nähe befindlichen Bäume schwanken wie dünnes Schilf und dem unvorsichtigen Zuschauer, der zu nahe herantritt, wird der Erdboden unter den Füßen weggezogen.

Wenn die Hinfahrt ausgeführt werden soll, so werden die Bremsen von den Rädern abgezogen und der Wagen bewegt sich infolge seiner eigenen Schwere in die Mündung des Tunnels. Hierbei geht er über einen verborgenen, im Boden liegenden, mit einem eisernen Gitter bedeckten Luftkanal. Aus diesem Kanal treibt man dann mittels des Windrades einen kräftigen Luftstrom, während sich zugleich ein, aus zwei eisernen, gleich Schleusentoren eingehängten Flügeln bestehendes Tor fest vor den Eingang des Tunnels legt und diesen abschließt. Die in den Tunnel einströmende Luft presst sich nun zwischen dem Tor und dem den Tunnel verstopfenden Waggon zusammen, übt allmählich einen Druck auf letzteren aus, wobei dieser sanft gleitend vorwärts, seinem Bestimmungsorte entgegenrollt. Das rotierende Windrad erhält die bewegende Kraft, bis der Wagen das Ende der Steigung erreicht hat, wo dann wieder seine eigene Schwere genügt zur Zurücklegung des noch übrigen Weges. Die Rückfahrt wird, wie bereits angedeutet, durch Aussaugung der Luft aus dem Tunnel bewirkt. Nach einem gegebenen Signal wird eine Klappe geöffnet und das Windrad beginnt, die Luft aus dem Tunnel zu ziehen. In der Nähe des oberen Endes von dem Tunnel ist eine breite Spalte oder ein Seitengewölbe, welches als Abzugskanal für die gepresste Luft dient. Das eiserne Tor an der oberen Endstation wird noch geschlossen gehalten. In einer oder zwei Sekunden eilt der Zug der unteren Station entgegen, indem er angezogen wird von der infolge der Luftaussaugung entstehenden Luftleere, die sich vor ihm befindet; zugleich treibt ihn der hinter ihm wirkende Luftdruck von der oberen Station weg. Mit großer Schnelligkeit rollt er auf der fallenden Bahn zurück, nähert sich den eisernen Torflügeln, welche auffliegen und ihn an das Tageslicht gelangen lassen. Auf diese Weise arbeitet dieses neue System. Dasselbe scheint besonders geeignet, zur Herstellung der Kommunikation zwischen kürzeren Strecken, sowie für Linien in großen Städten und da, wo Tunnel mit starker Steigung bestehen. Man darf wohl annehmen, dass die hauptsächlichsten Schwierigkeiten, welche der praktischen Ausführung der pneumatischen oder atmosphärischen Eisenbahnen seit 15 Jahren entgegenstanden, durch die gegenwärtige Verbesserung auf das Glücklichste überwunden sind.

Bei den früheren Systemen hatte das Rohr nur einen sehr geringen Durchmesser und war auf den Erdboden gelegt. Der Kolben des Rohrs war durch eine Stange mit den Wagen verbunden und diese Stange konnte durch eine Klappe, welche an dem oberen Ende des Rohres in der ganzen Länge desselben angebracht war, sich aber sofort hinter der Stange schloss aus dem Rohr ausmünden. Bei dem geringen Durchschnitt des Rohres war ein enormer Luftdruck erforderlich; auch traten sehr oft Störungen ein und ging viel Kraft verloren, so dass das alte System sehr kostspielig war. Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, dass ein großer Übelstand bei der Durchfahrt der gewöhnlichen Züge durch Tunnels, bei der pneumatischen Eisenbahn vollständig wegfällt, nämlich der widerwärtig riechende Rauch der Lokomotivenfeuerung, sowie die verdorbene Luft in den Tunneln. Bei der pneumatischen Eisenbahn führt im Gegenteil jeder Zug frische Luft mit sich und verdrängt die verdorbene Luft.

Seit Eröffnung dieser kleinen Eisenbahn haben viele Besucher des herrlichen Kristallpalastes dieselbe benutzt und eine Fahrt auf der Lufteisenbahn scheint zu den notwendigen Vergnügungen des Tages zu gehören.

Entnommen aus dem Buch:
Die Aufbruchstimmung und der technische Fortschritt im 19. Jahrhundert führten zu immer neuen Erfindungen, die den Verkehr beschleunigen und die Antriebe optimieren sollten. Dabei wurde oft das System von mit Dampflokomotiven bespannten Zügen auf zwei Schienen grundlegend in Frage gestellt. Manche dieser Ideen sind heute wieder aktuell, und so lohnt sich ein unverfälschter Blick auf dieses interessante Kapitel der Verkehrsgeschichte.
  PDF-Leseprobe € 18,90 | 148 Seiten | ISBN: 9-783-7583-7184-4

• Auf epilog.de am 5. Dezember 2024 veröffentlicht

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