Verkehr – Fernmeldewesen
Moderne Hieroglyphen
Von Hans Dominik
Die Woche • 6.4.1907
Seit einigen Tausend Jahren sind die zivilisierten Völker der Erde bei der Schreibschrift angekommen. Sie malen, zeichnen oder schreiben allerlei für den Schriftunkundigen gänzlich Unverständliches auf weißes Papier. Dem Schriftkundigen aber erzählen diese Charaktere die verschiedensten Dinge. Wir selbst nehmen diese Tatsache als etwas ganz Selbstverständliches hin. Es wundert uns in keiner Weise mehr, dass ein mit schwarzen Zeichen bemaltes Stück Papier uns beispielsweise sehr eingehend über das Wohlergehen irgendwelcher Verwandten in Schlesien oder Amerika unterrichten kann, oder dass ein anderes Stück stummen Papiers uns etwa den stürmischen Verlauf einer Volksversammlung mit allen möglichen Einzelheiten schildert.
Wir können uns kaum vorstellen, dass uns die Schreibkunst jemals wieder abhandenkommen könnte, und denken kaum daran, dass sie mit fortschreitender Kultur zum Teil wenigstens durch manches andere ersetzt werden wird.
Dennoch werden wir uns mit dem Gedanken wohl oder übel vertraut machen müssen. Unsere heutige Schrift entsprang dem Bedürfnis, allerlei Dinge so aufzuzeichnen, dass der des Lesens Kundige sie ohne Zusammenhang mit dem Schreiber wieder rekonstruieren konnte. Zur Erreichung dieses Zwecks dienten mancherlei Mittel. Es braucht nur an die Knotenschriften, die geknüpften Netze und Riemen mancher Indianerstämme erinnert zu werden, aus denen der Kundige ganze Geschichten herausliest. Die alten Kulturvölker Asiens und Afrikas meißelten ihre Schriftzeichen in Steinplatten oder ritzten sie in Ton, der später gebrannt wurde. Sobald man einmal zu einer Buchstabenschrift gekommen war, lag die Sache im Prinzip fest, und die Schriftzeichen selbst standen hauptsächlich unter dem Einfluss der Schreibmaterialien. Beim Ritzen von weichem Ton entstehen ganz von selbst keilförmige Ausschnitte, und so führte diese Technik zu den Keilschriften. Dem Schreiben im weichen Wachs waren die altrömischen und griechischen Buchstaben vorzüglich angepasst, während unsere modernen Schriften durch die Arten der Papiere und Federn bestimmt wurden und beispielsweise seit dem Ersatz der weichen Schreibkiele durch Stahlfedern ganz charakteristische Veränderungen erfahren haben. In der Hauptsache ging jedoch die Aufgabe aller dieser Schriften, bei den assyrischen Siegelsteinen angefangen und beim modernen Zeitungsblatt aufgehört, dahin, optische Zeichen zu schaffen, die zunächst das Auge erregen und dann weiter im Gehirn ganz bestimmte Vorstellungen auslösen.
Dies allgemeine Prinzip der Schrift fand zum ersten Mal eine Durchbrechung, als man daran ging, Bücher für die Blinden zu drucken. Da hier das Auge versagte, so musste man andere Sinne erregen, und man wählte den Tastsinn, der in den Fingerspitzen der Blinden hoch entwickelt zu sein pflegt. Die Papierblätter wurden nicht eigentlich gedruckt, sondern in flachem Relief gepresst. Dabei war jeder Buchstabe durch eine charakteristische Kombination hervorstehender Punkte, ähnlich den Augen der Dominosteine, ausgedrückt. Solche Bücher sind dem Schriftkundigen im allgemeinen unverständlich. Der Blinde gleitet mit den Fingerspitzen die Seiten entlang, und die wechselnden Erhöhungen und Vertiefungen erzählen ihm je nach ihrer Anordnung die mannigfachsten Dinge. Es existiert bereits eine ziemlich umfangreiche derartige Blindenbibliothek.
Zwar weicht die Blindenschrift bereits von dem allgemeinen Schriftprinzip ab, optische Zeichen zu erzeugen, aber sie soll immerhin noch direkt gelesen werden. Sie wirkt direkt auf einen Sinn, zwar nicht mehr auf das Auge, aber auf das Gefühl.
Unser technisches Zeitalter förderte jedoch noch manche andere Schrift. Da ist zunächst die Morseschrift der Telegrafisten. Sie war in ihrer Eigenart durch das Wesen der älteren Telegrafenapparate bedingt, die eben nur zweierlei konnten, nämlich lange und kurze Stromimpulse geben. Dementsprechend setzt sich in der Morseschrift jeder Buchstabe aus kurzen oder längeren Strommschlüssen, d. h. aus Punkten und Strichen, zusammen. Dem Laien erzählt der endlose Papierstreifen, der aus dem Telegrafenapparat hervorquillt, gar nichts. Der Telegrafenbeamte liest ihn so bequem und schnell wie wir die Zeitung. Ja, er braucht ihn nicht einmal zu lesen, denn die Morseschrift kann man auch hören. Bereits aus dem Ticken des Apparats entnimmt der kundige Beamte den ganzen Sinn der Botschaft, und für ihn bedeutet der mit Strichen und Punkten bedeckte Streifen eigentlich nur eine Kontrolle gegenüber der Geberstation und dem Publikum. Dabei ist die Morseschrift ziemlich weit verbreitet. Viele Hunderttausend Personen beherrschen sie ebenso geläufig wie die übliche Schreibschrift, können sie hören und auch lesen.
Bleiben wir beim Telegrafen, so stoßen wir alsbald auf eine ganz neue Schriftart, auf den perforierten Papierstreifen. Unserer hastenden Zeit genügte der einfache Telegraf ja nicht mehr, und sie erfand den Schnelltelegrafen. Sowohl bei dem Apparat von Pollack und Virág wie auch bei jenem von Siemens & Halske wird die geschriebene Depesche erst einmal in eine andere Schrift umgesetzt, die der Schnelltelegraf mit besonderen Organen zu lesen vermag. Der Beamte hat einen Apparat, der einer Schreibmaschine nicht unähnlich ist, und schreibt darauf die Depesche ab. Diese Maschine nun schlägt für jeden Buchstaben eine bestimmte Anzahl von Löchern in bestimmter Zusammenstellung in das Papier. So tritt der Papierstreifen auf der einen Seite ganz in die Maschine ein und verlässt sie auf der anderen Seite, mit einem sinnverwirrenden Gefüge von Löchern versehen. Dem Laien ist diese Schrift zum mindesten so unverständlich wie die Bemalung altägyptischer Totenkammern. Der Schnelltelegraf aber versteht sie wohl zu lesen. Zwar hat er weder Augen noch Ohren, dafür aber eine Zahl stromführender Finger, die auf einer Metallwalze gleiten. Mit Windesschnelle wird der Papierstreifen zwischen Walze und Fingern hindurchgezogen, und das Papier trennt beide. Sowie aber ein Loch kommt, kann an der Stelle der Finger gegen die Metallwalze schnellen und Stromschluss machen. Das Spiel geht so schnell, dass das Auge nicht mehr folgen kann. Der Schnelltelegraf aber bekommt seine Stromimpulse auf die tausendstel Sekunde genau zur richtigen Zeit und weiß sie richtig zu verwerten. Bei der Apparatur von Pollack und Virág bewegen diese Stromstöße auf der Empfängerstation ein Spiegelchen, auf dieses fällt ein haarfeiner Lichtstrahl und wird auf einen lichtempfindlichen Papierstreifen reflektiert. Unter den Bewegungen des Spiegels erzittert der Lichtstreif, und so sinnreich ist die Anordnung, dass der flimmernde Lichtstrahl auf dem Papierstreifen in sauberer lateinischer Schreibschrift das niederschreibt, was man auf der Geberstation aus der gewöhnlichen Schreibschrift in die Perforationsschrift übersetzt hatte. So schnell quillt der Streifen aus dem Apparat, dass das Auge ihm nicht folgen kann. Schreibt der Telegraf doch zweitausend Silben in der Minute. Beim Siemensapparat arbeiten die Impulse in anderer Art, aber auch hier ist das Resultat eine saubere Druckschrift bei gleicher Schnelligkeit.
Der perforierte Papierstreifen ist nicht auf die Elektrotechnik beschränkt geblieben. Lesen hier Apparate mit elektrischen Organen die Perforationsschrift, so finden wir im Instrumentenbau eine große Zahl von Musikinstrumenten, die sie gleichfalls auf ihre Weise deuten. In erster Linie mag das alte elektrische Klavier genannt werden. Auch hier ist das Musikstück in eine Perforationsschrift übersetzt, und wiederum gleitet der Papierstreifen zwischen stromführenden Fingern und einer Walze hindurch. An der perforierten Stelle gibt es Stromschluss, und es folgt die Erregung eines Elektromagneten, der seinerseits die betreffende Klaviersaite anschlägt. Derartige automatische Klaviere, die vor zwanzig Jahren viel von sich reden machten, arbeiten aber maschinenmäßig, ohne jeden Wechsel im Ausdruck. Die modernen Klavierspielapparate gehen daher von anderen technischen Grundsätzen aus. Bei dem einen beispielsweise ist Luftdruck das treibende Mittel. Die Modulierung der mechanischen Arbeit in gegliedertes Spiel erfolgt aber auch hier wieder unter Benutzung des perforierten Papierstreifens. Über einen Metallzylinder, der den 72 Tasten des Klaviers entsprechend 72 feine Öffnungen hat, wird ein Papierstreifen gezogen, der in scheinbar ganz regelloser Anordnung gelocht ist. Solange das volle Papier über die Öffnungen schleift, sind diese verschlossen. Die Außenluft kann nicht einströmen, und die zugehörigen Tasten bleiben stumm. Sobald jedoch eine Öffnung kommt, dringt Luft ein und füllt einen luftleeren Blasebalg. Ein Hebel schwingt aus, und die Taste wird angeschlagen. So unleserlich uns diese Perforationsschrift ist, so leserlich ist sie dem Apparat. Er setzt sie in Töne um und spielt die Melodie, nach der einst die Perforationsschrift entstand.
Wir finden den perforierten Streifen noch weiter in den Orchestrions, und wir finden seine Abart, die perforierte Bleichscheibe, in unzähligen automatischen Spieldosen. Es ist eine ganz absonderliche Schrift, die die moderne Technik hier geschaffen hat: ein Papierstreifen, der an die Knotenschrift der Indianer erinnert. Aber im Schnelltelegrafen oder im Musikapparat wird er lebendig und beredt. So schafft eine neue Zeit mit neuen Mitteln und für neue Bedürfnisse neue Ausdrucksformen. Neue Arten der Aufzeichnung entstehen, die sich der alten Buchstabenschrift mehr oder weniger ebenbürtig an die Seite stellen.
• Neuerscheinung •