Handel & Industrie – Textilproduktion
Die Krinolinen-Fabrik
von Thomson u. Comp. in Annaberg
Illustrirte Zeitung • 2.5.1863
Die herrschende Mode der Krinolinen ist aus dem Bestreben der Damen, ohne den lästigen Aufwand an großen und schweren Massen gefällige Formen zu gewinnen, hervorgegangen.
Die Rohr-und Fischbeinröcke, in denen dieses Bestreben zuerst sich kundgab, erreichten ihren Zweck nur unvollkommen. Auch die ersten Stahlreifenröcke, die von Frankreich zu uns kamen, hatten keinen Erfolg, weil die angewendeten Reifen zu breit waren; sie waren schwer und fielen schlecht, so dass sich die Damen gezwungen sahen, Gewichte oder mit Sand gefüllte Beutel vorne anzuhängen. Erst die Benutzung des Uhrfederstahls zu den Krinolinen gab den Ausschlag; die Uhrfederkrinoline ist leicht, angenehm zu tragen und hat vor allem den Vorteil großer Biegsamkeit.
Links eine Arbeiterin an einer Presse, rechts eine andere an einer Nähmaschine.Die ersten Krinolinen dieser Art lieferte Thomson etwa um 1855. Sie fanden großen Beifall und verbreiteten sich rasch durch alle zivilisierten Länder und alle Schichten der Gesellschaft, so dass Thomson, um der allseitigen Nachfrage zu genügen, sich veranlasst sah, über verschiedene Plätze die Fabrikation auszudehnen. In den wenigen seitdem verflossenen Jahren sehen wir ihre Fabriken in New York, London, Paris, Brüssel, Annaberg und Weipert entstehen und erblühen.
Das Thomsonsche Etablissement zu Annaberg wurde am 9. Februar 1861 begründet und ist im Besitz von W. S. und C. H. Thomson, die in Paris leben und von da die Moden bestimmen, und der Herren Netelton und Wilde, die die Leitung der Fabrik am Platz besorgen. Die Fabrikation wird in zwei Gebäuden betrieben, von denen das ältere, ein Bau von 67 m Länge und 14 m Tiefe, innerhalb von vier Wochen errichtet wurde. Betreten Sie mit uns, freundliche Leserinnen, das Innere dieser Gebäude und bewundern Sie die Ordnung und Sorgfalt, die auf die Herstellung Ihrer vielangefeindeten Freundin verwendet wird!
Das Einschieben der Reifen in die Taschen der auf die Formen gespannten Bänder.Den Anfang machen die Kragen oder Sättel. Dieselben werden nach Schablonen geschnitten und auf Maschinen zusammengenäht und gesteppt. Hierauf werden die Gürtel, ebenfalls auf Maschinen, angenäht und die Rohre in die Kragen eingeschoben. Auf anderen Maschinen werden nun die von oben nach unten gerichteten Bänder, nachdem sie zuvor durch Zerschneiden nach dem vorgeschriebenen Maß die angemessene Länge erhalten haben, angenäht und an den unteren Enden eingefasst. Dann werden die Gürtel mit dem Fabrikzeichen gestempelt und mit den zur Befestigung dienenden Ösen oder Schnallen versehen. Das Halbfabrikat, welches durch diese Manipulationen entstanden ist, wird auf eine hölzerne Form aufgespannt, bei welcher nicht nur der Kragen und Gürtel, sondern auch jedes der Länge nach heruntergehende Band seine Unterstützung findet, und nun folgt das Einschieben der übersponnenen Stahlreifen, die auf eine Spindel im oberen Teil der Form aufgesteckt sind, in die an die Bänder angewebten Taschen. Dabei erhalten die Reifen zwar die der Rockweite entsprechende Länge, aber sie stehen mit den Bändern noch nicht in fester Verbindung, und es werden deshalb nun die Reifen mit den Taschen der Bänder verleimt, nachdem zuvor die Durchgangsstellen mit Bleistift angezeichnet worden sind. In diesem Zustand wird das Ganze von der Form abgenommen und den Pressen Übergeben, auf welchen nicht nur alle Enden der Reifen mit Nieten gefasst werden, sondern auch noch eine dritte Niete zur Verbindung der beiden Enden eines jeden Reifes übergepresst wird. Die Enden der oberen Reifen bleiben bekanntlich frei und werden, teils des bessern Aussehens wegen, teils um Beschädigungen durch die Nieten zu vermeiden, mit Bändern eingefasst. Hiermit ist die Fabrikation vollendet und es bleibt nur noch eine nochmalige Durchsicht und Prüfung übrig, worauf sie dutzendweise verpackt werden.
Die Halbfabrikate gehen von Hand zu Hand, müssen aber immer zwischen je zwei Operationen an eine Ausgeberin abgegeben werden, die die Arbeit prüft und dann der nächsten Arbeiterin übergibt.
Eine Abteilung mit Handarbeit beschäftigter Mädchen unter Aufsicht ihrer Ausgeberin.Bei der vorstehenden Beschreibung des Fabrikationsganges ist die gangbarste Sorte von Krinolinen zu Grunde gelegt worden; die Firma Thomson liefert aber 20 Sorten, von denen jede wieder in vielen – bis zu 16 – verschiedenen Nummern zu haben ist. Die geringste Anzahl von Reifen ist 4, die größte 40. Röcke von 10 Reifen und weniger erhalten keine Kragen; auch werden bei manchen dieser billigen Sorten die Bänder durch gekreuzte Schnüre ersetzt. Bei den feineren Sorten fallen die Taschen an den Bändern weg, und die Stahlreifen werden nach einem patentierten Verfahren mit den Bändern vernietet.
Die Fabrikräume erhalten durch Fenstergalerien in den beiden Dachflächen ein vorzügliches Licht. Angemessene Temperatur, gute Ventilation und eine tadellose Sauberkeit lassen den Besucher vergessen, dass er sich in einem Fabriklokal befindet.
Das Überspinnen des Stahls besorgen G. Wilde u. Comp. in der Siegerschen Fabrik zu Buchholz mit 360 Klöppelmaschinen, die täglich 85 000 m Stoff überspinnen und dabei noch 28 000 m Schnüre liefern. Der Stahl wird aus England bezogen und zum größten Teil vom Londoner Haus Thomson, das den Stahl selbst auswalzt, geliefert. Im Ganzen beläuft sich der wöchentliche Bedarf des Annaberger Hauses auf 7500 kg oder 500 000 m Stahl, eine halbe Million Ösen und Nieten und 200 000 m Band und Schnüre. Die wöchentliche Produktion beträgt 12 000 – 14 000 Krinolinen. Die Zahl der in der Fabrik selbst beschäftigten Arbeiterinnen ist ungefähr 400, die durchgängig nach Stück bezahlt werden und zum größten Teil bei gleichen Lohnsätzen einen höheren Lohn verdienen als die englischen Arbeiterinnen des Londoner Hauses.
Alle Etablissements von Thomson zusammengenommen liefern wöchentlich 60 000 – 70 000 Krinolinen. In Frankreich sind sie alleinige Inhaber des Patentes.