Verkehr – Eisenbahn
Konstruktion und Herstellung moderner Lokomotiven
Das Neue Universum • 1899
Wenn auch die Dampflokomotive von ihrem elektrischen Rivalen jetzt schon auf ihrem hauptsächlichsten und ursprünglichsten Wirkungsgebiet, dem Betrieb der Vollbahnen, hart bedrängt wird, so machen doch andererseits die Lokomotivkonstrukteure um so größere Anstrengungen, auf diesem Feld das Übergewicht zu behaupten. In Wirklichkeit lässt sich nicht leugnen, dass die Dampflokomotive in der Beförderung großer Züge, vor allem, wenn es sich um bedeutende Entfernungen handelt, von der elektrischen Lokomotive noch nicht erreicht wird. Es ist deshalb gewiss berechtigt, wenn wir dem Lokomotivbau, der beständig neue Fortschritte aufzuweisen hat, eine allgemeine Übersicht mit einigen Abbildungen seiner neuesten Leistungen widmen.
Abb. 1. Schnellzug-Compoundlokomotive der Nordbahn.Was den Bau der Compoundmaschinen betrifft, so bürgern sich dieselben von Jahr zu Jahr mehr ein, und die heute von uns zu schildernden Typen zeigen gegen diejenigen, mit denen wir den Leser bei anderen Gelegenheiten bekanntgemacht haben, verhältnismäßig nur geringe Abweichungen. Haben wir hier eine Compoundmaschine beschrieben, die speziell zur Überwindung großer Steigungen geeignet war, so geben wir diesmal zunächst das Bild einer mächtigen Lokomotive der Nordbahn wieder, die vorwiegend behufs der Entfaltung einer großen Geschwindigkeit konstruiert worden ist. Die von der elsässischen Maschinenfabrik in Belfort erbaute Compoundmaschine ist, da sie weder zur Beförderung schwerer Lasten, noch zur Bewältigung großer Steigungen angewandt werden soll, so leicht wie möglich gehalten, während das Hauptaugenmerk auf eine möglichst große Dampferzeugung und auf einen tunlichst hohen Wirkungsgrad der Maschinenteile gelegt wurde. Die erstere Bedingung, die sich auf die Leistungsfähigkeit des Kessels und der Feuerung bezieht, entspricht etwa dem bei guten Rennpferden gemachten Anspruch an eine gesunde, große und leistungsfähige Lunge. Zur Erreichung dieses Ziels ist die Rostfläche der Feuerbüchse von 2,04 m² auf 2,30 m² vergrößert und sind die Heizröhren nicht mehr wie früher glatt, sondern von gewellter Oberfläche, wodurch die Berührungsfläche des Wassers und des von den Feuergasen bestrichenen Metalls entsprechend vergrößert wird. Gleichzeitig mit der Rostfläche ist auch der Wasserinhalt des Kessels etwas vergrößert worden, während das früher für Lokomotivkessel verwendete zähe Eisenblech, wie bei den Kesseln der Kriegsmarine, schon längst durch möglichst weiches und dehnbares Stahlblech ersetzt worden ist. So ließ sich eine Gewichtserleichterung des Kessels mit einer Erhöhung des zulässigen Druckes verbinden, welch letzterer neuerdings für Schnellzuglokomotiven auf 15 Atmosphären während der Fahrt gesteigert worden ist. Auch die Feuerbüchse ist vollständig aus Stahl zusammengenietet, und zwar mussten an die hierzu verwendeten Bleche besonders hohe Ansprüche bezüglich ihrer Dehnungsfähigkeit gestellt werden, während man sich, was die Festigkeit betrifft, an dieser Stelle mit einem etwas geringeren Koeffizienten als in dem dampferfüllten Kessel begnügen kann. Der zur Herstellung der Kesselbleche dienende Stahl muss demnach auf eine Bruchfestigkeit (d. h. ein zum Zerreißen oder Zerbrechen nötiges Gewicht) von 40 – 45 kg pro Quadratmillimeter und auf eine dem Zerreißen vorhergehende Dehnungsfähigkeit von etwa 33 % geprüft sein, während man sich bei dem Blech der Feuerbüchse mit einer Druckfestigkeit von 36 – 40 kg begnügt, aber eine Dehnungsfähigkeit bis zu 36 % verlangt. Natürlich wird bei der gewaltigen Verdampfungsfähigkeit dieser Kessel stündlich eine sehr große Wassermenge verbraucht, wenn die Maschinen, wie es meist der Fall ist, mit voller Kraft arbeiten. In Amerika hat man speziell für die Lokomotiven der durchgehenden Schnellzüge auf gewissen horizontalen Strecken meilenlange Wasserkanäle zwischen den Schienen angelegt, aus denen die Lokomotivpumpen während der Fahrt schöpfen können. In den europäischen Eisenbahnländern, mit Ausnahme etwa von England, ist diese Einrichtung bis jetzt noch nicht getroffen, weshalb man den vorbesprochenen Lokomotiven besonders umfangreiche Tender mit einer Fassungskraft von 18 m³ Wasser beigegeben hat.
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