Feuilleton – Land & Leute
Jahresversammlung der Pariser Lumpensammler
Die Gartenlaube • 1857
Wir finden in einem Pariser Blatt folgende interessante Details über die ehrenwerte Gemeinschaft der Lumpensammler:
Sie haben eine methodische Brüderlichkeit, und schon seit langer Zeit besteht unter ihnen eine äußerst nützliche Gesellschaft zur gegenseitigen Unterstützung. Noch kürzlich erbaten sie vom Polizei-Präfekten die Erlaubnis, sich zur Prüfung und Revidierung der Statuten dieser Gesellschaft versammeln zu dürfen. Diese Versammlung fand in einer Kneipe ›Zur alten Fahne‹ im Quartier St. Marcel statt. Achtundvierzig von der Assoziation der Lumpensammler ernannte Delegierte waren gegenwärtig; jeder von ihnen bezahlte beim Eintritt 20 Centimes zur Bezahlung der Saalmiete und einer gewissen Anzahl von Flaschen gewöhnlichen Weines.
Der älteste der Delegierten nahm vorläufig den Präsidentenstuhl, d. h. eine umgekehrte Tonne ein; sechs Delegierte, die lesen, und fünf, welche schreiben konnten, wurden als Kandidaten für die Posten eines Präsidenten und eines Sekretärs ernannt. Nach der Wahl dieser beiden Würdenträger übergab der Alterspräsident seinen Sitz dem neuen Präsidenten, wobei letzterer seinen Vorgänger umarmte; der Präsident hielt dann eine Anrede, worin er zuerst die Rechtschaffenheit der Korporation der Lumpensammler rühmte und nachwies, dass dies kein leerer Wahn sei, da sie alle gefundenen Gegenstände der betreffenden Behörde aushändigten und nur selten ein Lumpensammler wegen Diebstahls oder anderer Ursachen vor Gericht erscheine. Er erstattete dann Bericht über die Tätigkeit der Gesellschaft seit der letzten Versammlung und ermahnte in pathetischer Weise seinen ›lieben Brüder‹, sich einander zu lieben und einig zu bleiben. Nach dieser Ansprache verlas der Sekretär die Statuten, 52 Paragrafen an der Zahl, und fragte, ob jemand Veränderungen zu beantragen habe. Nur zwei Artikel wurden debattiert: der 17., betreffend die brüderliche Verteilung der verschiedenen Distrikte von Schmutzhaufen unter die Lumpensammler und der 52., den monatlichen Beitrag jedes Mitgliedes und die Unterstützung der Kranken betreffend. Nach einer ernsthaften Debatte wurde der erste dieser beiden Artikel dahin modifiziert, dass die oben erwähnten Distrikte nicht nur den Lumpensammlern dieser Distrikte vorbehalten bleiben sollen, sondern dass auch kein Lumpensammler unter irgendeinem Vorwand sich an den Schmutzhaufen eines anderen vergreifen darf; der 52. Artikel wurde dahin geändert, dass künftighin wegen der Teuerung der Lebensmittel der monatliche Beitrag 50 Centimes statt 25 betragen, und jeder Kranke täglich 60 Centimes statt 30 erhalten soll. Nachdem die Statuten feierlich angenommen waren, wurde der schon in früheren Versammlungen gefasste Beschluss, dass der Älteste der Korporation, Namens S…, ein Greis von 85 Jahren mit dem Beinamen ›der General‹, für den Rest seiner Tage von dem monatlichen Beitrag ausgenommen, dennoch aber alle Rechte eines Mitgliedes beibehalten soll, dass ihm ferner monatlich 250 Gramm Tabak zuerteilt werden und er bei allen Versammlungen und Banketten den Ehrenplatz nebst freier Zeche habe, von neuem einstimmig und unter donnerndem Beifallsruf bestätigt.
Die Reihe kam nun an den Schatzmeister, um Rechnung über seine Kassenverwaltung abzulegen. Alles wurde für richtig befunden, auch die Bilanz von 17 Frcs. 95 Cts., welche in einer irdenen Sparbüchse aufbewahrt waren.
Als die Geschäfte alle abgemacht waren, begaben sich die Delegierten nach einer Kneipe, genannt ›der dreifarbige Topf‹, an der Barrière Fontainebleau, wo ein Bankett bereitet war. Dieser Ort ist stets der Treffpunkt der Assoziation der Lumpensammler gewesen. Er war immer in drei Sektionen abgeteilt; die erste, genannt die Pairskammer, war für die Elite der Versammlung reserviert, d. h. für diejenigen bestimmt, welche einen guten Tragkorb, eine gute Laterne und einen mit Kupfer beschlagenen Hafen besaßen; die zweite Abteilung, Deputiertenkammer, war für diejenigen bestimmt, welche obige Gegenstände in nicht so wohl erhaltenem Zustand oder von geringerer Qualität besaßen; die dritte Abteilung endlich, der Saal der wahren Proletarier, fasste die Lumpensammler der niedrigsten Klasse, d. h. diejenigen, welche weder Tragkorb, noch Laterne, noch Haken besitzen und folglich gezwungen sind, die Lumpen mit der Hand aus den Schmutzhaufen zu holen und in einen Sack zu stecken. In der Versammlung aber, welche wir beschrieben haben, wurde beschlossen, dass als Zeichen der Freundschaft und guter Brüderlichkeit alle Klassenunterschiede aufgehoben werden und die drei erwähnten Klassen an einem Tisch Platz nehmen sollten. Der Präsident beantragte, dass dieser Beschluss auch in Zukunft als fest bestehende Regel gelten sollte, was auch durch Akklamation angenommen wurde.
Die Teilnehmer des Banketts begannen als dann, ihrem Mahl zuzusprechen. Die Ehrenschüssel war eine riesige ›olla potrida‹; ein hoher irdener Krug, das ›Väterchen‹ genannt, welchen ein Fass, der ›Mohr‹ benamset, beständig füllte, enthielt den Wein, und zwar ordinären; das Nachessen bestand aus gewaltig stark riechendem Käse, Radieschen und einem Glas Branntwein, genannt ›Brustbrecher‹ (casse-poitrine).
Beim Bankett ging es sehr lustig her und beim Dessert wurden mehrere Toaste ausgebracht; der eine auf die Presse, welche, sagte der Präsident, die Welt erleuchtet, und durch ihre ungeheure Papierkonsumtion den Lumpensammlern ihr tägliches Verdienst zuwendet. Schließlich wurde eine Sammlung zu Gunsten der Armen veranstaltet, welche 9 Frcs. 75 Cts. einbrachte.
Bei früheren Gesellschaften waren die Tischgerätschaften mit Ketten an den Tisch befestigt; dieses Mal geschah dies nicht. Indessen verlangte man von den Gästen, dass sie eine gewisse Summe deponierten, welche ihnen später wiedergegeben wurde.