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Die ›Drahtlose‹ für den Hausgebrauch

Von Hans Dominik

Die Woche • 21.7.1923

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.
Orgelmusik und GlockengeläutOrgelmusik und Glockengeläut durch drahtlose Station in einer amerikanischen Kirche.

Die Sache stammt aus dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Dort, wo kein Postregal ihre Entwicklung hinderte und eine rekordfrohe Jugend sich ihr mit Enthusiasmus hingab, konnte sie schnell eine Ausdehnung erreichen, die selbst für amerikanische Verhältnisse erstaunlich ist. Das broad casting nämlich, was man am besten mit ›Drahtlose für den Hausgebrauch‹ übersetzt. Denn die wörtliche Übersetzung ›Ausgießen ins Breite‹ erfordert eine längere Erklärung. Dazu muss gesagt werden, dass eine Anzahl von großen Gebestationen vorhanden ist, die allerlei Dinge von allgemeinem Interesse, wie Börsenkurse und Methodistenpredigten, Operndarbietungen und politische Reden, Wetterberichte, Unglücksfälle usw. in den Äther hinausfunken. BabyEin Baby wird drahtlos unterhalten und in den Schlaf gesungen. Weiter aber existieren im Gebiet der amerikanischen Union nicht Hunderttausende, sondern viele Millionen von kleinen Empfangsstationen, die mit wenigen Griffen auf die Wellenlänge dieser oder jener Gebestation eingestellt werden können und ihrem Besitzer danach die jeweilige augenblickliche Produktion der betreffenden Gebestation zu Gehör bringen.

KrankenhausRadio-Musik zur Erheiterung der Leidenden in einem amerikanischen Krankenhaus.

Wie sehr das broad casting heute Allgemeingut des amerikanischen Volkes ist, dafür geben unsere Bilder den besten Beweis. Die Drahtlose als Orgelersatz, als Märchenerzählerin für Babys, als Zeitvertreib am Krankenlager und als Geschenk auf dem Geburtstagstisch. Die Fülle der Erscheinungen wird nur verständlich und erträglich, wenn man bedenkt, dass sie sich auf ein Volk von 150 Millionen und einen halben Erdteil verteilt.

Deutschland hat einen sehr hohen Prozentsatz der vielen Amateurstationen geliefert. Die deutschen Fabrikate sind in der Union sehr geschätzt und werden willig höher bezahlt als die US-Erzeugnisse. Wir haben auch in Deutschland eine Reihe von Gebestationen, die Nachrichten, Musikstücke usw. in drahtloser Telefonie aussenden.

RadioempfangsstationRadioempfangsstation für den Salon.

Wer aber die Absicht hat, offiziell und reell die schönen Dinge zu hören, der muss erst mit Impfschein, Leumundszeugnis u. dgl. bei der Post um einen Apparat einkommen, den er dann auch nach vielem Warten und nicht unerheblichem Bemühen bekommt. Wer auf die beiden Adjektive ›offiziell‹ und ›reell‹ zu verzichten gelernt hat, der steckt sich in seinen Kleiderschrank, ganz hinten hinter den Bratenrock, eine Rahmenantenne, stellt ins Fach seines Schreibtisches die ganze Empfangsapparatur und hat nach Belieben alle Stationen der Welt von Kanada bis Moskau. Die Zahl dieser ›Geheimstationen‹ dürfte in Deutschland nicht unbeträchtlich sein. Immerhin sind auch bei uns erfreuliche Ansätze für eine kommende Entwicklung vorhanden. Man ist besonders an der Arbeit, eine auch künstlerisch befriedigende Wiedergabe von Musikdarbietungen auszuarbeiten, und eines Tages wird das Postregal der technischen Entwicklung zum Opfer fallen. Vorläufig aber haben Holland und England auf dem Gebiet Führung in Europa.

• Auf epilog.de am 15. Februar 2025 veröffentlicht

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