Handel & Industrie – Druck & Papier
Frauen als Buchdruckerinnen in der
Londoner Frauendruckerei ›Victoria‹
Illustrirte Zeitung • 21.9.1861
Die durch ihre humanen Bestrebungen berühmte Florence Nightingale sagte jüngst:
»Wenn jede Schriftstellerin, welche sich über die Emanzipation und über die Arbeit der Frauen ausgelassen hat, nur zehn Frauen erziehen oder zu der Erziehung verhelfen wollte, um der jetzt schon vorhandenen Nachfrage nach Arbeit zu genügen, so würden die Resultate keinen Zweifel über den Vorzug dieser Bemühung obwalten lassen. Eine Freundin, die – anstatt darüber zu schreiben – in ihrem eigenen Haus einen solchen Versuch, und zwar für Buchdruckerinnen, gemacht hat, erlaubt mir mitzuteilen, dass derselbe vollständig gelungen ist, dass die Frauen guten und sogar hohen Lohn bekommen (von 5 – 8½ Taler wöchentlich), dass sie nicht zu viel Stunden arbeiten, sondern Zeit für häusliche Beschäftigung erübrigen und dass sich die Unternehmung dennoch rentiert.«
Das war offenbar nur der erste schüchterne Versuch, Frauen zu Buchdruckerinnen und Schriftsetzerinnen zu machen. Aber er gelang glänzend. Und warum sollte er das auch nicht? Für viele Beschäftigungen eignen sich Frauenhände offenbar mehr als Männerhände. Namentlich da, wo es mehr auf ruhige, regelmäßige Ausübung einer und derselben Tätigkeit, auf Geduld und Sorgfalt ankommt, als auf Körperkraft oder besondere technische Fertigkeit, gebührt ihnen vor jenen der Vorzug. Wird doch auch schon seit einiger Zeit das großartige Londoner Telegrafenbüro lediglich von Telegrafistinnen besorgt! Die Geschicklichkeit und Fingerfertigkeit, welche Mädchen und Frauen am Telegrafenapparat entwickelten, bewiesen sich auch am Setzerkasten. Und wenn sich in England ein Experiment glücklich bewährt, so bemächtigt sich bekanntlich der praktische Sinn des Briten der Sache, um sie sogleich im Großen auszuführen.

Im Jahr 1860 wurde zu London in der Great Coram Street die große Druckerei ›Victoria‹ gegründet, welche nur Frauen beschäftigt und sehr gute Geschäfte macht. Dieselbe ist eine Privatanstalt mit sehr beträchtlichem Kapitalfonds. Eine der Besitzerinnen, Miss Emily Faithfull, übernahm die alleinige Leitung und sie eröffnete das Geschäft im vorigen Jahr mit einigen Mädchen, von denen fünf von der Gesellschaft für Beförderung der Frauenarbeit angelernt worden waren. Später kamen andere hinzu, welche von männlichen Verwandten in ihrem Fach unterrichtet worden waren, aber in keiner Druckerei Beschäftigung finden konnten. Alle Stellen sowohl in der Setzerei als in der Druckerei sind jetzt mit Frauen besetzt. In Deutschland verwenden wir Frauen und Mädchen in unseren Buchdruckereien nur als Bogenfängerinnen. Dort aber wird das ganze Buch von Frauenhänden fertig hergestellt; kein Mann hilft dabei; das Setzen der Schriften geht den Frauen flink von der Hand und auch die Pressen bedienen sie mit großer Gewandtheit. So gingen in letzter Zeit außer dem English Womans Journal schon mehre bedeutende Werke aus jenem Institut hervor.
Das Institut ist jedoch nicht bloß an sich eine interessante Erscheinung. Es ist vielmehr auch insofern ein höchst erfreuliches Zeichen der Zeit, als es uns zeigt, wie sich überhaupt in unseren Tagen der bisher so beschränkte Kreis der Frauenarbeit mehr und mehr erweitert. Den Frauen nämlich müssen neue Arbeitsgebiete eröffnet werden. Was kann noch eine Spinnerin verdienen, seitdem die Mule-Jenni die Arbeit von 500 Spinnerinnen in einem Tage vollbringt? Was sollen die Näherinnen beginnen, von denen zwei Drittel durch die Nähmaschine außer Lohn und Verdienst gesetzt werden? Jules Simon entrollt in seinem trefflichen Buch I'Ouvrière vor unserem Auge ein trauriges Bild von der fortschreitenden Entwertung der Frauenarbeit und weist auf den schlimmen Einfluss dieser Entwertung auf die sittliche Lage der arbeitenden Frauen hin. Er zeigt beispielsweise, wie die Handstickerei von der Maschinenstickerei allmählich erdrückt wird, wie die Spitzenklöppelei in Valenciennes fast ganz geschwunden ist, wie wenig Lohn die Strohhutflechterei in Nancy abwirft, wie wenig die Arbeiterinnen für die Kleidermagazine in Paris verdienen usw. Mehr als die Hälfte der Frauen, die von ihrer Arbeit leben, sind noch jetzt auf den Verdienst mit der Nadel beschränkt – sie können die Konkurrenz mit der Maschine nicht bestehen. Es war aber nicht die individuelle Natur des Weibes, welche der Frauenarbeit die bisher eingehaltene Grenze anwies, sondern das weibliche Geschlecht war vielmehr durch seine bisherige soziale Stellung vom Betreiben vieler bürgerlichen Gewerbe abgehalten, für die es sich seiner Individualität gemäß recht wohl eignet. Die Gewerbefreiheit eröffnet den Frauen die Perspektive auf neue industrielle Berufszweige, und unter diese zählt nach jenen Erfahrungen in England gewiss auch die Schriftsetzerei und Buchdruckerei.
• P.