Bau & Architektur – Öffentliche Bauten
Ein rotierendes Hängegerüst
Der Stein der Weisen • 1897
Gleichwie alle großen Städte des amerikanischen Kontinentes, New York, Boston, Chicago u. a., einen ungeahnten Aufschwung ins Riesenhafte genommen haben, sowohl was die kommerzielle und politische Bedeutung als auch was die bauliche Ausgestaltung anbelangt, ebenso macht im selben Umfange der Zentralsitz der Regierung der nordamerikanischen Union – Washington – den Prozess der kräftigen und glänzenden Entwickelung durch. Es ist noch nicht lange her, dass die amerikanische Bundeszentrale einen ländlich-idyllischen Stempel trug, den Eindruck des Unfertigen hervorbrachte und demgemäß vom amerikanischen Volkswitz auch die ›Stadt der großen Entfernungen‹ genannt wurde, weil die Gesamtausdehnung der Stadt ungefähr ein Gebiet erreicht, gleich dem von Wien und Berlin, dem ungeachtet aber nur gegen 200 000 Bewohner zählt, so dass die Gebäude durch große Zwischenräume getrennt sind. Die letzten zehn Jahre jedoch brachten Washington einen Aufschwung, welcher die Bundeshauptstadt in jeder Hinsicht zu einer der glänzendsten der Republik gestalten wird. Dominierten ehedem die kleinen Landhäuser, so werden dieselben nunmehr durch weitgedehnte, moderne, glanzvolle Prachtbauten verdrängt, welche sich zu echt weltstädtischen Avenuen und Plätzen gruppieren. Vornehmlich die Staatsgebäude, ob sie nun für die politische Verwaltung, als Museen oder wissenschaftliche Institute ihren Zwecken dienen, sind wahre Prachtpaläste von prunkender Ausstattung. Die Regierung strebt, in diesen Juwelen architektonischer Kunst einen Mittelpunkt des gesamten Staatslebens zu schaffen. Bekannt sind ja das Capitol, das große Museum u. a.; neben diesen erscheint nun insbesondere das Gebäude der sogenannten Congress-Bibliothek in einer prächtigen Architektur und in grandiosen Formen errichtet. Dieser Bibliothekspalast ist gegenwärtig das schönste und glanzvollste Werk amerikanischer Baukunst. Im italienischen Renaissancestil gehalten, ist das Gebäude aus Granit in großen Dimensionen ausgeführt, indem es einen Raum von ungefähr 160 m in der Länge und 120 m in der Breite bedeckt. Hierbei dehnt es seine vier Fronten jede frei nach einer Straße und jede Front weist eine prächtige Fassade in Granit auf, wogegen die inneren Teile, wie Wände, Säulen und dergleichen, in Verkleidung von verschieden gefärbtem Marmor einen effektvollen Eindruck machen. Reiche Verzierungen und passende Ornamente jeglicher Sujets ergänzen die architektonischen Schönheiten des Baues in stilvoller Weise.
Dem Zwecke als Bibliothek mit großen Lesesälen entsprechend, weisen die Fassaden in drei Geschossen zusammen 2000 Fenster auf, die, in großem Maßstab gehalten, dem Inneren eine sonst in ähnlichen Bauten nur selten anzutreffende Fülle von Licht zuführen. Wie in Amerika dies bei allen bedeutenderen Bauwerken der Fall, ist auch das Heim der Congress-Bibliothek durchaus feuersicher aus Eisen und Stein errichtet. Eine nach dem Stand der heutigen Technik vollendete Anlage für Ventilation und Beleuchtung machen die Anstalt zu einem Muster für ähnliche Werke.
Das Hauptgebäude wird von einer mächtigen Kuppel gekrönt, deren Dach mit an der Außenseite stark vergoldeten Kupferblechen gedeckt ist. Diese scheinbar luxuriöse Bedachung entspringt aber keineswegs eitler Prunksucht, sondern ist lediglich aus praktischen Rücksichten gewählt worden, indem auf diese Weise eine längere Haltbarkeit gewährleistet erscheint, sowie anderseits der unoxidierbare Goldbelag die Widerstandsfähigkeit gegen Einflüsse des Regens etc. sicherte und damit umständliche und kostspielige Reparaturen der Bedachung vorweg ausgeschlossen wurden. Des Weiteren tragen die Fassaden den im Zweck des Baues begründeten Schmuck; viele Fensterbogen zeigen im Schlussstein einen menschlichen Kopf, und zwar als Typen von 32 Menschenrassen, wodurch dem universellen Charakter des Institutes Rechnung getragen wurde.
Den größten Raum der Bibliothek bildet die große Lesehalle in Form eines mächtigen Raumes von kreisförmiger Grundgestalt von nicht weniger als 32 m im Durchmesser und 39 m in der mittleren Höhe unter der Laterne der vorerwähnten Kuppel. Letztere bildet die Decke der Halle und ruht auf mächtigen Säulen aus Marmor aus den verschiedenen Fundorten der amerikanischen Union. Die künstlerische und dekorative Ausschmückung der inneren hohlen Fläche dieser Kuppel war eine Hauptschwierigkeit, weil die Gerüste für die arbeiten den Künstler hergestellt werden mussten, was bei der Höhe des Kuppelraumes kein leichtes Werk war.
Hierbei betätigte sich jedoch der praktische Sinn der Amerikaner sehr wohl, indem für die leichte Herstellung dieser Schmuckstücke ein eigenartiges rotierendes Hängegerüst angelegt wurde, wie es die Abbildung vor Augen führt. Mit Hilfe dieser Anlage gelangten die Künstler auf schwebenden Tragstühlen ähnlich den bekannten Hängegerüsten sicher zu derjenigen Stelle der Kuppelwandung, an welcher das Ornament erstehen sollte. Von Medaillon zu Medaillon durch einen einfachen Mechanismus geschoben, boten die Teile des Gerüstes den Arbeitenden einen sicheren Standpunkt in allen Partien der Kuppel.
Zur rascheren Vollendung der Arbeiten waren zwei solcher Drehgerüste in Tätigkeit, deren Anlage aus der beigegebenen Abbildung zu entnehmen ist. Im Scheitel der Kuppel war nämlich eine starke Welle angebracht, welche Schienen zur Aufnahme der knieförmig gebogenen eisernen Gleitbalken für die fünf Gerüststühle trug. Diese Welle von 15 cm starkem Eisenstrunk stellt somit die Achse dar, um welche sich das Gesamtgerüst dreht. Die Anlage des Gerüstes bestand aus dicken Eisenstäben, die derart winkelig gebogen waren, dass das Gerüst parallel mit der Kuppelwandung lief. Geeignete Verankerungen mittelst Winkeleisen und Bolzen stellten eine sichere Verbindung der einzelnen Teile her. Weiter ermöglichten Eisenschienen die Drehung des Gerüstes um den unteren Kuppelrand, so dass Arbeiter durch bloßen Handantrieb die Verschiebung des Fachwerks herstellten. Zu den oberen Spangen und zu den vorspringenden Enden der Balken waren Planken und Latten geführt, welche durch Riegel mit dem eisernen Gerippe verbunden waren und stets parallel zur Kuppelwandung liefen. Die Hauptrollen, welche zum Teil die Gerüste mittragen, laufen um ein gemeinsames Mittelstück. Ferner waren zur besseren Führung der Stühle längs des unteren Kuppelrandes 23 cm lange Eisenstangen eingefügt, von denen eine 4 cm starke Platte vorsprang, welche ihrerseits wieder als Schiene wirkte. Gegen das Ausspringen aus den Gleitschienen waren die Rollen entsprechend versichert, indem Flansche in Verbindung von zwei waagrechten Leiträdern von je 18 cm im Durchmesser das Gerüst gegen die Schiene hielten. Hierdurch gelang es, die Gerüste stets mit treffender Sicherheit zu jenem Punkt zu schieben, der gerade zur Bearbeitung an der Reihe war. Ein weiteres, aber feststehendes Gerüst in der senkrechten Mittelachse der Kuppelhalle vermittelte endlich im Verein mit einem kleinen eisernen Steg die Verbindung der Hängegerüste untereinander, sowie die Herbeischaffung aller nötigen Arbeitsmittel für die Künstler.
Die Gesamteinrichtung ist so zweckentsprechend und ingeniös erdacht, dass der tatsächlich damit erzielte Erfolg in Hinsicht auf die rasche Vollendung der Arbeiten sowie auf die Freihaltung des Kuppelraumes von Gerüsten u. dgl. für die Vorzüge dieses eigenartigen Gerüstes spricht.
Mit dieser Anlage wurden alle Ornamente der inneren Kuppelwandung hergestellt. Die Motive derselben sind Cherubinen, Rosen, Blumen aller Art, Vögel, sowie geometrische Ornamente neben allegorischen Gestalten in künstlerischer Ausführung. Gegen die Laterne der Kuppel zu bilden Gemälde von dem bekannten amerikanischen Maler Edwin Blashfield den Abschluss der Rosettenfelder.