Verkehr – Eisenbahn
Die kleinsten Lokomotiven
Das Neue Universum • 1900
Wenn der heutige Lokomotivbau im Allgemeinen auf die Beförderung immer größerer Lasten, die Entfaltung immer höherer Geschwindigkeiten und dementsprechend auf die Hervorbringung immer schwererer Lokomotivtypen von der größten Leistung hinzielt, so gibt es daneben doch auch Zwecke, denen umgekehrt die aller kleinsten und zierlichsten Lokomotivgattungen besser entsprechen, und es war sogar vor längerer Zeit recht Mode, mit der Spurweite und dem Lokomotivgewicht herabzugehen, so weit es irgend möglich war.
Kleinbahnmaschine des Woolwich-Arsenals. Einige, teils aus dieser Epoche stammende Beispiele solcher Miniaturlokomotiven führen wir unseren Lesern im Wort und Bild vor. Am meisten neigt man zur Einschränkung der Spurweite, mit welcher das Lokomotivgewicht im engsten Zusammenhang steht, bei der Anlage sogenannter Fabrikbahnen, welche nicht nur auf dem oft weit verzweigten Grund und Boden großer industrieller Etablissements den Lastentransport vermitteln, sondern auch in das Innere der Werkstätten eindringen sollen, um die Arbeitsstücke direkt an den Werkzeugmaschinen abzuliefern oder von dort abzuholen. Unsere beiden ersten Abbildungen sind Beispiele solcher Industriebahnen. Ihre Spurweite beträgt nur 46 cm, im Arsenal von Woolwich, dieser riesigen Konzentration von Geschütz-, Gewehr- und Munitionswerkstätten, von Magazinen, Schießplätzen und dergleichen, welche ein Areal von 160 ha bedecken, werden 48 km Gleis von dieser Spurbreite betrieben, während 24 km Normalgleise mit Hilfe einer dritten, zwischengelegten Schiene so eingerichtet sind, dass sie sowohl von gewöhnlichen Bahnen, als von den Lokomotiven der kleinen Fabrikbahn befahren werden können.
Lokomotive der Horwichwerke. Die letzteren besitzen ein Gewicht von etwas über 9 t, während das Gewicht großer Schnell- und Güterzuglokomotiven sich zwischen dem Fünffachen und Zehnfachen davon bewegt. Ihre schrägliegenden Zylinder haben 304 mm Hub und nur 177 mm Durchmesser. Es sind 46 Lokomotiven dieser Art und etwa 1000 Güterwagen dazu vorhanden. Selbst der Personenverkehr auf dem ausgedehnten Fabrikgrundstück wird zum Teil mit Hilfe dieser Kleinbahn bewältigt.
Eine Miniaturbahn, die mehr einer Laune als einem wirklichen Bedürfnis entsprang, heute aber nichtsdestoweniger ein solches erfüllt, ist die englische Duffieldbank-Eisenbahn, die von Sir Arthur Heywood geschaffen wurde, um zu erproben, mit welcher Spurweite und wie beschränkten Mitteln man einem Jahresverkehr von 5000 t noch gerecht werden könne. Die Spurweite dieser originellen Bahn beträgt nur 38 cm, und die Schienen sind 3 – 4-mal leichter, als diejenigen einer Normalbahn. Es sind zwei Maschinentypen vorhanden, von denen der leichtere nur 3670 kg, der schwerere rund 5000 kg wiegt. Die Dimensionen der Güter- und Personenwagen sind denen der Gleise entsprechend, scheinbar für Zwerge berechnet, aber in Wirklichkeit doch noch geräumig genug. Jeder Personenwagen fasst acht Reisende.
Bahnen von ähnlicher Beschaffenheit, eigentlich nur noch als historische Merkwürdigkeiten zu betrachten, sind mehrfach für den Privatgebrauch von Souveränen und Fürstlichkeiten gebaut worden, als die Eisenbahn im Allgemeinen noch nicht so verbreitet war wie heute. Die auf Befehl des Herzogs von Westminster konstruierte Miniaturbahn von ›Eaton Hall‹, welche ebenfalls 38 cm Spurweite besitzt, gehört hierher.

Wenn wir von den vorhergehenden, allerdings seltenen Spurweiten mit einem kleinen Sprung auf das 60 cm breite Gleis, das Mindestmaß der heute üblichen Kleinbahnen, übergehen, so könnten wir Hunderte von Fällen anführen, in denen solche Bahnen zur Zufriedenheit arbeiten. Wird auch heute im Interesse einer einheitlichen Kleinbahnspur meist diejenige von 75 cm oder 1 m gewählt, so hat sich doch die Schmalspur von 60 cm ganz gut bewährt und man kann wohl sagen, dass sie die geringste, für einen einigermaßen regen Verkehr noch brauchbare ist. Als ein klassisches Beispiel einer größeren Eisenbahn dieser Gattung führen wir die indische Darjeeling-Eisenbahn, eine berühmte Gebirgsbahn an den Abhängen des Himalaya, an. Die Linie beginnt in Shiliguri, dem Endpunkt der nordbengalischen Eisenbahn in Vorderindien, und hat ihr Ziel in der mehr als 2000 m hoch gelegenen Bergstadt Darjeeling. Die 95 km lange Bahn windet sich in unglaublichen Schlangenlinien und ›Kehren‹ längs der Gebirgsabhänge aufwärts, auf eine Länge von 64 km hat sie in ihrer steilsten Strecke 2000 m Höhenunterschied zu überwinden. Schon die engen Kurven auf dieser, beiläufig als höchst malerisch bekannte Gebirgsstrecke machten die Schmalspur notwendig, ebenso aber auch die Rücksicht auf den schwachen Verkehr, der keine kostspieligen Bahnbauten gerechtfertigt hätte. Die Lokomotiven der Darjeeling-Eisenbahn wiegen 13,8 t, die Güterwagen nur ungefähr eine Tonne, während ihre Tragkraft das Dreieinhalbfache beträgt.

Wir beschließen diese Übersicht merkwürdiger Eisenbahnen mit einer Reihe von solchen Linien, die sich weniger durch die Zierlichkeit ihrer Dimensionen als durch die geringe Länge ihres Schienennetzes oder die auffallende Bescheidenheit ihres Betriebsmaterials auszeichnen und die gewissermaßen eine Rechtfertigung jener Männer bilden, die vor 60 – 70 Jahren den zukünftigen Verkehr der Eisenbahnen nach dem Postfelleisen abschätzen wollten. Wie enorm müssen die Leistungen eines Unternehmens wie die Easingwold-Eisenbahn in England sein, deren Gleislänge 3 km beträgt, während ihr rollendes Material sich aus einer Lokomotive und zwei Personenwagen zusammensetzt. Auch die Manhood- und Selsey-Bahn und Lambourel-Talbahn verfügen nicht über viel mehr Wagen und Lokomotiven. In ganz Großbritannien zählte man kürzlich 32 Eisenbahngesellschaften, welche nicht über drei Lokomotiven besitzen; zehn, welche nur über eine einzige verfügen. Wie sich der Betrieb auf solchen kleinen Bahnen gestaltet, zeigt beispielsweise die Eisenbahn zwischen Ravensglass und Boot in Cumberland, die den Dienst ihrer 11 km langen Strecke auch mit einer einzigen Maschine und noch dazu einer solchen von 10 km/h Fahrgeschwindigkeit versieht. Ein Lokomotivführer, ein Heizer und ein Bediensteter, der alle sonstigen Funktionen vom Weichensteller bis zum Schaffner und Bahnhofsvorsteher ausfüllt, das ist das ganze Beamtenpersonal dieses Riesenunternehmens.