VerkehrEisenbahn

Die deutsche Eisenbahn in Venezuela

Illustrirte Welt • Mai 1896

Voraussichtliche Lesezeit rund 7 Minuten.
Station Los TequesStation Los Teques.

Wer vor einem Jahrzehnt den indolenten Venezolanern gesagt hätte, dass eine deutsche Bahn binnen kurzem die beiden Hauptstädte ihres Landes – Caracas und Valencia – verbinden würde, trotz all der Terrain­schwierig­keiten, welche lange Zeit für beinahe unüberwindlich gehalten wurden, der würde von ihnen zweifelsohne für einen Fantasten gehalten worden sein. Diese Bahn ist jetzt eine Tatsache, und mit ihr ist nicht nur das fruchtbare und kaffee­reiche Araguatal dem deutschen Handel erschlossen, sondern auch das deutsche Ansehen in dem Land um ein Bedeutendes größer geworden.

Der Landstrich, welchen die Bahn durchschneidet, produziert bereits jetzt 350 000 bis 400 000 Sack Kaffee pro Jahr, und dieser Ertrag kann und wird sich in den nächsten zehn Jahren verdreifachen. Desgleichen wird die schon jetzt sehr bedeutende Viehzucht, für welche die prachtvollen Ebenen am großen Valenciasee wie geschaffen sind, von Jahr zu Jahr einen größeren Aufschwung nehmen. Die Ländereien, durch welche die Bahn führt und welche meilenweit brach und wüst daliegen, werden nach und nach vollständig bebaut sein (ein Anfang hierzu ist bereits geschehen), und damit wird naturgemäß auch der noch ziemlich unbedeutende Personenverkehr größere Verhältnisse annehmen. BahnarbeiterBahnarbeiter der Linie Caracas – Valencia. Wenn also die bis jetzt erzielten Resultate recht traurig sind, so steht der Bahn eine um so glänzendere Zukunft bevor.

Eines sonnigen Morgens machten wir es uns in einem der komfortablen, nach amerikanischem Muster gebauten Waggons bequem, um von Caracas aus die Fahrt nach Valencia, der zweiten Stadt des Landes, zu unternehmen. Da die Fahrt aus Ersparnis­rück­sichten und der Steigung wegen nur äußerst langsam vor sich geht – die etwa 180 Kilometer der Strecke werden in neun Stunden zurückgelegt –, richtet man sich so häuslich wie möglich ein, und meist findet man auch bei reisenden Landsleuten oder Beamten der Bahn Anknüpfungspunkte zu angenehmer Unterhaltung. Bald fesselt jedoch der prachtvolle Fernblick die ganze Aufmerksamkeit.

Zuerst gelangen wir an den Villenort Antimano, wo die meisten wohlhabenden Familien von Caracas alljährlich einen längeren Landaufenthalt nehmen, und dessen Stationsgebäude infolge dessen ziemlich belebt aussieht. CaracasCaracas von Süden. Das Land ist noch allenthalben bebaut und macht einen ziemlich zivilisierten Eindruck.

Doch bereits hier beginnt jene endlose Serie von Tunneln, welche der Bahn ein so eigentümliches Gepräge verleiht, den Reisenden aber auf die Dauer ganz nervös macht. Auf der Strecke befinden sich im ganzen sechsundachtzig Tunnel, darunter manche von respektabler Länge und 105 größere Brücken und Viadukte, welch letztere sämtlich aus Eisen konstruiert sind, ohne dass ihre graziöse Luftigkeit der Solidität Abtrag täte.

Die Sonne brennt immer heißer auf uns herab. Eine Dame, die uns gegenübersitzt, nimmt ›zur Erfrischung‹ einen ganz unheimlichen Schluck Rum. Wir hielten uns lieber an die saftigen Früchte, welche allenthalben auf den Stationen feilgeboten wurden. Auf allen größeren Haltestellen fehlt es auch nicht an kleinen Buffets, wo gute und frische Getränke erhältlich sind. Wir kommen zur Station Los Teques, einer der schönsten und interessantesten der ganzen Linie. Der Ausblick in die weiten, tief einschneidenden Flusstäler ist großartig. Fünf verschiedene Bergzüge von verschiedener Höhe und verschiedener Färbung türmen sich kuliss­enartig hintereinander auf. Viadukt im BauViadukt km 44 im Bau. Der erste prangt in frischem Grün, während die hinteren sich in mannigfachen Schattierungen abtönen und der letzte in graublauer Färbung beinahe mit dem Horizont verschwimmt. Die tropische Sonne und der tiefblaue Himmel verleihen dem ganzen Bild eine eigenartige Stimmung. Auf dem ersten Teil der Fahrt sah man noch zu beiden Seiten der Strecke häufig Kaffee- und Zuckerrohrplantagen, hin und wieder auch ein kleines Bananenwäldchen. All dies allerdings in recht verwahrlostem Zustand, wie eben alles hier zu Lande, aber es war dies doch ein Zeichen menschlicher Kultur. Dies hört nun auf. Die Strecke mit ihren Felspartien und den zahllosen Schluchten, über welche ein Viadukt nach dem anderen führt, wird immer wildromantischer. Die Linie muss endlose Kurven beschreiben, und gleich einer Schlingpflanze die Felsen hinauf und herunter klettern, wobei die Steigung im Durchschnitt 2 % beträgt. Nach und nach wird der tiefste Punkt der ganzen Strecke – etwa 400 m über dem Meeresspiegel – erreicht. Die Hitze wird immer drückender; aber nun geht es zum Glück etwas rascher mit der Fahrt. In den Tunneln wird man von dem zurückgetriebenen heißen Rauche der Maschine beinahe erstickt. obgleich die Wölbung eine ziemlich große ist. In der Station Viktoria wird Mittagspause gemacht und ein Frühstück serviert. Die Stadt, eine anmutige Niederlassung von fünf- bis sechstausend Seelen, liegt etwas abseits von der Station und ist Mittelpunkt ertragsfähiger Plantagen. Viadukt GaleraViadukt Galera. Was all diesen Stationen einen überaus freundlichen Anblick verleiht, sind die reizenden, schön gehaltenen kleinen Gärten, die sie umgeben und welche in der Pracht tropischer Blumenfülle prangen. Allenthalben berührt die herrschende Ordnung und Sauberkeit auf das angenehmste. Schon daran könnte man die deutsche Leitung erkennen. Die Beamten auf der Strecke sind indes nur zum geringen Teile Deutsche; aber die einheimische Bevölkerung ist intelligent und anstellig, und aus ihr hat sich die Direktion einen ganzen Stab von brauchbaren Subaltern­beamten zu erziehen gewusst, die sich willig der strammen Disziplin fügen und den Dienst genau und pflichtgetreu versehen. Nur auf den bedeutenderen Punkten befinden sich deutsche Stationsvorsteher. Die Zugführer mit der traditionellen roten Tasche gemahnen auch ganz und gar an die heimatlichen Verhältnisse.

Eine doppelte Telegrafenlinie verbindet die Stationen untereinander. Unglücksfälle sind bis jetzt nur sehr vereinzelt vorgekommen, wenn sie auch leider nicht gänzlich zu vermeiden sind in einem Lande, wo trotz aller Mahnungen und Verbote der Schienenstrang von einem großen Teile der Bevölkerung als Weg benützt wird. Eine ungemein praktische Einrichtung sind die Filtrierapparate, welche sich auf allen Stationen befinden und die Reisenden und das Betriebspersonal mit kühlem und gesundem Wasser versorgen.

TunnelBlick von Tunnel km 51 nach km 42.

Wir sind nun in der großen, schönen Ebene des Aragua­tales. Der Horizont wird monotoner, dafür nimmt aber die Vegetation an üppiger Pracht zu. Zahllose Rinderherden weiden auf den weiten Savannen, und bald erblicken wir auch zwischen den Stationen Maracay und Cabrera den großen, malerischen Valencia­see mit seinen reizenden Ufern und den endlosen Bergketten im Hintergrunde.

Die Bahn geht über eine schmale Landzunge sozusagen mitten durch den See. Die Ufer sind mit Schilf bestanden, in welchem zahllose Wildenten flattern. Der See, von welchem als Kuriosum berichtet wird, dass er zweiundzwanzig Meilen im Umfang misst, zweiundzwanzig Inseln hat und zweiundzwanzig größere und kleinere Flüsse aufnimmt, ist insofern ein wissenschaftliches Phänomen, als er von Jahr zu Jahr kleiner wird und sein Wasser einen eigentümlichen salzigen Geschmack hat. Ein Bad in seinen Fluten soll unausbleiblich einen heftigen Fieberanfall nach sich ziehen.

Die Szenerie bleibt sich nun so ziemlich gleich. Der pittoreske See, an welchem sich das Auge nicht sattsehen kann, verschwindet in der Ferne und der Zug fährt endlich gegen Abend in die Endstation Valencia ein. Dieselbe ist eine hübsche, große Stadt mit all dem modernen Luxus von Telefon, Tramway und elektrischer Beleuchtung. Die wohlhabendere Bevölkerung, unter welcher sich sehr viele Deutsche befinden, lebt im Stadtteile Camoruco, wo sich Villa an Villa reiht; die schönen Gärten, welche diese Villen umgeben, strömen des Abends einen betäubenden Wohlgeruch aus.

• R. S.

• Auf epilog.de am 5. Februar 2025 veröffentlicht

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