FeuilletonLand & Leute

Aus Südtirol

Das Buch für Alle • 1872

Seit einigen Jahren hat der Fremdenverkehr in Tirol während der Sommers­zeit ungemein zugenommen, und es namentlich die Eröffnung der Brennerbahn wesentlich dazu beigetragen, die mannigfaltigen Schönheiten dieses herrlichen Landes zu erschließen. Keine deutsche Provinz kann sich an wechselvoller landschaftlicher Schönheit mit dem Land Tirol messen, das man deshalb mit Recht den schönsten Edelstein in der Krone Österreichs genannt hat. Selbst das Hochgebirge in den Schweizer Alpen bietet nicht viel, was großartiger und schöner wäre, als das, was Tirol in den Ötztaler, Stubaier und Sellrainer Fernern, am Ortler und Großglockner und an den Tauern aufzuweisen hat. Ist schon das Tiroler Kalkgebirge schön, um wie viel kühner, malerischer, zerrissener und wilder stellen sich dem Blick erst die sogenannten Schiefer- und Dolomit-Alpen im Nordosten und im Süden Tirols dar? Am deutlichsten aber tritt die ungemeine Abwechslung und Mannigfaltigkeit von Boden, Klima und Anbau dem Reisenden vor Augen, wenn er die Brennerbahn befährt und ins Eisack­tal hinuntersteigend die Gegend von Brixen erreicht. Droben auf der Brenner-Station befand man sich noch in einer Meereshöhe von 1370 m, in unwirtlicher, rauer, steiniger Umgebung. Kaum aber hat man die granitenen Basteien der Franzens­veste passiert und ist mit der Bahn zu einer ungefähren Meereshöhe von 570 m herabgestiegen, so tritt einem in dem bedeutend erbreiterten Tal des Eisack schon eine mildere Luft und eine reichere Vegetation entgegen, es erscheinen nach und nach Nussbaum, Edelkastanie und Weinstock, und in der Gestalt der Häuser und in der Tracht der Bewohner begegnet einem schon die größere Wohlhabenheit in Folge der ergiebigeren Fruchtbarkeit des Bodens, und gleichzeitig damit auch der lebhaftere Verkehr auf den Landstraßen.

Wirtshaus bei Brixen in TirolWirtshaus bei Brixen in Tirol.

Unser Bild zeigt uns die Ansicht eines der malerischen Wirtshäuser an der Landstraße in der Nähe von Brixen, mit dem soliden, gewölbten steinernen Erdgeschoss und dem hölzernen Dachstock, mit der üppigen Reben­belaubung der Front und dem breiten Vordach, mit dem obst­reichen Garten hinter dem Haus und dem kühlen Keller voll feurigen Weins, den man hier für wenige Kreuzer trinkt.

• O. M.

• Auf epilog.de am 29. Mai 2025 veröffentlicht

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