Berlin

Die Tintenfische im Berliner Aquarium

Illustrirte Zeitung • 16.2.1878

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

In einem Seebecken des Berliner Aquariums tummeln sich seit einigen Wochen vier Tintenfische, die das Interesse des Naturforschers und Tierfreunds in hohem Maß erregen. Es war eine schwierige Aufgabe, für diese wunderbaren Meerbewohner einen künstlichen Aufenthaltsort zu schaffen, der alle notwendigen Lebensbedingungen enthielt, und es ist ein besonderes Verdienst des Dr. Hermes, diese Aufgabe endgültig gelöst zu haben. Während die meisten Seetiere sich im auf chemischen Weg bereiteten Meerwasser wohl fühlten, starben alle bisjetzt eingeführten Tintenfische nach wenigen Stunden, bis es dem Leiter des Aquariums nach vielfachen Versuchen gelang, die richtige Zusammensetzung des Elements zu finden. Die aus dem Atlantischen Ozean stammenden Tiere sind keine Fische, sondern sie gehören zu der Ordnung der Kopffüßler (Cephalopoda) und führen den Namen Oktopus vulgaris, Tintenfisch, Vielfuß resp. Achtfuß; sie sind indes mit dem eigentlichen zehnfüßigen Tintenfisch, Sepia officinalis, dem Träger der unter dem Namen Os sepiae bekannten Rückenplatte, nicht zu verwechseln. Schon Aristoteles kennt den Oktopus unter der Bezeichnung Polypus (Polyp), und seit Jahrtausenden hat sich um das Tier eine Art Mythe gebildet, die, von Küstenbewohnern und Seefahrern lebhaft ausgeschmückt, schließlich zu dem Glauben an die fabelhaftesten Untiere Veranlassung gab.

TintenfischeDie Tintenfische im Aquarium zu Berlin.

Der Neuzeit ist es vorbehalten gewesen, Wahrheit und Dichtung in Bezug auf diese Tiere zu trennen, und wir betrachten daher die überaus interessanten Geschöpfe von einem erbaulicheren Gesichtspunkt. Der größte der Tintenfische des Berliner Aquariums erreicht (schwimmend) eine Länge von 40 cm. Indem wir in Bezug auf die äußere Gestalt des Tieres auf die beigegebene Abbildung verweisen, sei nur erwähnt, dass die Hautfarbe im normalen Zustand weißlich-grau (ähnlich der Weinbergschnecke) ist; dieselbe durchläuft aber, je nach Seelenstimmung, Aufenthalt und Beleuchtung des Tiers alle Schattierungen bis zum Rot und Rotbraun. Es gibt wohl kaum ein Geschöpf, welches dem Beobachter einen so reichen Wechsel von Formen und Gestalten darbietet wie der Oktopus, so dass selbst ein Viktor Hugo und Alexander Dumas (Vater) ihn in den Rahmen ihrer literarischen Produkte gezogen haben. Dort sitzt es eingeklemmt zwischen grauem Felsgestein »zu scheußlichem Klumpen geballt«, die Katzenähnlichen Augen mit dem stieren und wilden Blick unverwandt auf einen Punkt gerichtet, an dem wir nur mit Mühe einen sich verkriechenden Krebs erkennen. Jetzt plötzlich rafft es sich mit der Blutgier des Tiers auf, um pfeilschnell über die ahnungslose Beute herzufallen und sie mit den acht Armen zu umstricken. Ein überraschendes Bild entwickelt sich, wenn der Oktopus bis zur Oberfläche des Wassers emporsteigt und sich dann, einem Fallschirm gleich, wieder herablässt; in dieser Situation ähnelt der Kopf mit den bedeutenden Erhöhungen um die Augen dem des Flusspferds (Hippopotamus), während derselbe im nächsten Augenblick durch einen von oben übergelegten Arm einem Elefantenschädel gleich ist. So eigentümlich das Schwimmen des Tiers ist (es geschieht rückwärts mit überaus schneller Wendung nach vorn, wenn es sich um die Ergreifung der Beute handelt), so seltsam ist der Gang auf dem Boden. Rasch und behänd eilt es über die Steine wie eine Spinne und scheint der Last des großen Beutels, aus welchem zu beiden Seiten kräftige Wasserstrahlen hervorschießen, kaum gewachsen zu sein.

Besonders anziehend ist das Studium der Fangarme, Organe, die mit überraschenden Fähigkeiten ausgerüstet sind. Auf jedem derselben befinden sich 120 Paar weißer, kreisrunder Saugnäpfe. Während diejenigen an der Basis des Glieds einen Durchmesser von 8 bis 10 mm haben, verjüngen sich die auf der Spitze sitzenden bis zu den kleinsten Dimensionen, so dass der äußerste Teil des Fußes mit einer von unten gesehenen Raupe große Ähnlichkeit hat. Diese Saugnäpfe arbeiten mit großer Sicherheit; in demselben Augenblick, da sich ein Fangarm an einen Gegenstand legt, erscheinen beide Teile unzertrennlich. Verschiedene Versuche haben ergeben, dass der Oktopus nur mit der äußersten Gewalt, bzw. Zerreißung des Glieds von seiner Beute zu lösen war. Die acht Arme sind ferner wegen ihrer starken Muskulatur einer großen Kraftentwickelung fähig. So tragen sich die Tintenfische des Berliner Aquariums große Steine zu einer Art Burg zusammen, um von der Spitze derselben oder aus höher gelegenen Höhlungen Umschau zu halten. Ein schalkhaftes Spiel treiben zwei nebeneinander befindliche Tiere. Die in graziösen Bogen geschwungenen Arme necken sich gegenseitig, das zierliche Rollen und Ringeln der äußersten Spitzen verrät die größte Lebendigkeit, es erfolgt eine vielfache Umarmung, bei welcher sich die Parteien aus den Schlupfwinkeln zu ziehen suchen. Während dieser durchaus friedlichen Ringkämpfe erröten und erblassen die Achtfüße am ganzen Körper oder nur an einzelnen Teilen, oft ist der Beutel grau und die Glieder braunrot, nicht selten rötet sich nur die Partie um die Augen und gibt dem Tier einen unheimlichen Anblick.

In geringeren Maß als die Sepia hat der Oktopus die Fähigkeit, Tinte abzusondern; es geschieht dies meistens in erregtem oder krankhaftem Zustand; nach allgemeiner Annahme soll das in Freiheit lebende Tier durch eine solche Tintenwolke den Blicken seiner Verfolger entziehen. Die Nahrung besteht in Krustentieren; so erhalten die Tintenfische des Aquariums täglich Krebse, die mit den papageischnabelähnlichen Fresswerkzeugen so gründlich verzehrt werden, dass nur die wohlverwahrten Brustpanzer übrigbleiben. So gierig und blutdürstig im Allgemeinen die Achtfüße sind, so beobachtet man doch anderseits auch wieder eine gewisse Gleichgültigkeit und Stumpfheit, indem nicht selten ein Krebs ruhig über einen Fangarm hinwegspaziert, ohne weiter belästigt zu werden.

Der Oktopus, in italienischen und französischen Küstenstädten unter dein Namen Volpi oder Poulpes bekannt, erreicht eine Größe von 3 m. Ein Exemplar, welches bei Nizza von einem Fischer mit größter Anstrengung bewältigt wurde, wog 25 kg. Es sind etwa 2000 Arten von Kopffüßlern bekannt, von denen jedoch nur 218 der jetzigen Schöpfung angehören.

 

• Auf epilog.de am 15. Oktober 2017 veröffentlicht

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