FeuilletonLand & Leute

Im Zeichen der sauren Gurke

Die Gartenlaube • 1895

Wer in den letzten Sommerwochen von der Reichshauptstadt aus dem kühlen Kamm des Riesengebirges zustrebt, dem bietet sich unterwegs, da wo er es vielleicht am allerwenigsten vermutet, mitten im tiefsten Sande der sandigen Mark, ein eigenartiges und vergnügliches Schauspiel. Der Zug hat eben ein unermesslich ödes Heideland durchbraust, unverfälschte ›Lüneburger‹ Heide, jämmerlich arme Kiefernwaldungen, die aus schierem, blendend weißem ›Brandenburger Schnee‹ traurig aufstreben – da verändert sich wie mit einem Zauberschlag das Landschaftsbild, eine Vegetation voll Üppigkeit und Kraft verdrängt plötzlich die melancholische Armut, wir umfahren das berühmte Spreewaldgebiet! Sauregurkenzeit in LübbenauZur Sauregurkenzeit in Lübbenau. Und nun winken schon die im dunklen Grün versteckten, roten Dächer der Hauptstadt dieses Wendenländchens, Lübbenaus, herüber, die Spreekanäle leuchten blau auf, fruchtbare Niederungen breiten sich weit vor unseren Blicken … gesegnete Gefilde, voller Anmut, Schönheit und Reichtum! Kennten wir nicht die Rolle, die Lübbenau und sein ›Hinterland‹ im Haushalt Berlins spielen, so würde sie uns doch in der nächsten Minute klar sein. Der kleine Bahnhof ist dicht besetzt von schmucken Wendendirnen, die in großmächtigen Körben das kostbarste und bezeichnendste Produkt der Jahreszeit, die saure Gurke, den neugierigen Reisenden darbieten; im Nu entwickelt sich ein schwunghafter Handel, das erfrischende Labsal findet reißenden Absatz. Man merkt es der Gurke an, dass sie noch nicht ganz ›abgelagert‹ und mild durchsäuert ist, aber just ihr herber, sozusagen unreifer Geschmack zieht die Käufer an. Und gern lässt man sich nachher im Coupé von einem Eingeweihten darüber belehren, weshalb uns gerade hier die durststillende Frucht gleichsam als Symbol des ganzen Städtchens und Ländchens entgegengetragen wird, von welcher Bedeutung die Gurke und ihre Verwandten für diesen reizvollen Erdenwinkel sind.

Lübbenau, die Handelsempore des Spreewaldes, sendet Jahr um Jahr 85 000 bis 90 000 Zentner Gurken in die nichtwendische Welt, zumeist nach Berlin, daneben etwa 15 000 Zentner Meerrettich, ebenso viele Zentner Mohrrüben, 13 000 Zentner Zwiebeln und noch reichlich 27 000 Zentner anderes Gartengemüse. Die Gurken- und Zwiebelkultur des wendischen (Ober-) Spreewaldes ist alt, und seit Jahrhunderten schon versorgt er Berlin mit diesen schätzbaren Früchten. Bedenkt man, dass aller nun bebauter Boden des einstigen Urwaldes, 1600 Hektar etwa, erst durch langwierige Aufschüttung und Düngung dem Wasser und dem Sande abgewonnen werden musste, so gönnt man dem fleißigen Wendenvölkchen gern sein Gurkenmonopol und den Ertrag seines redlichen Mühens. Und in der saftigen, säuerlichen Frucht, die dem vom brütendem Coupédunst erschöpften Vergnügungszügler neuen Humor verleiht und ihn zu allerhand naheliegenden Scherzen begeistert, erblickt der sinnende Reisephilosoph vielleicht auch etwas wie einen Gruß des geheimnisvollen Spreesumpfwaldes, der auch an wunderlieblichen Sagen und seltsam schönen Bräuchen so merkwürdig reich ist.

• R. N.

Entnommen aus dem Buch:
Die ›Zeitreisen‹ knüpfen an die Tradition der Jahrbücher und Zeitschriften ›zur Bildung und Erbauung‹ aus dem 19. Jahrhundert an. Eine bunte Auswahl von Originalartikeln begleitet den authentischen und oft überraschend aktuellen Ausflug in die Geschichte. Kultur- und Technikgeschichte aus erster Hand, behutsam redigiert, in aktueller Rechtschreibung und reichhaltig illustriert.
  PDF-Leseprobe € 14,90 | 124 Seiten | ISBN: 978-3-7543-5702-6

• Auf epilog.de am 16. September 2016 veröffentlicht

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