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Eine neue Wüsten-Eisenbahn

Die Gartenlaube • 1877

Voraussichtliche Lesezeit rund 4 Minuten.

Eine Eisenbahn durch die Wüste ist freilich an sich nichts Neues mehr, denn abgesehen von dem großen Schienenweg, der von Alexandria über Kairo bis hinauf nach Sint am linken Nilufer entlang mehrfach die libysche Wüste berührt, geht auch ein anderer seit Jahren von Kairo durch die arabische Wüste nach Suez. Jetzt hat man dort etwas südlicher eine neue Bahn angelegt, und zwar nach Helwan, die am 21. Januar 1877 eröffnet wurde.

Helwan ist jener Badeort in der Nähe der alten Kalifenstadt, von welchem gewiss viele unserer Leser bereits gehört haben und der schon deshalb so interessant ist, weil er eben mitten in der Wüste liegt. Und dazu ist dieser Teil der Wüste wohl der historisch merkwürdigste von ganz Ägypten, denn dort befinden sich die großen Pyramidenfelder von Gizeh, Sakkara, Dahschur und Abusir. Nur der Nil trennt Helwan von diesen tausendjährigen Monumenten, den ältesten von Menschenhand auf der Erde, und dieser Anblick allein ist schon ein Grund für jeden Fremden, das Wüstenbad zu besuchen. Früher war freilich der Besuch sehr umständlich und kostspielig, denn entweder fuhr man direkt von Kairo hinüber, und zwar wegen des Wüstensandes vierspännig, oder man benutzte die Eisenbahn des linken Nilufers bis Badrascheen, ließ sich dann über den Strom setzen und hatte außerdem noch eine Omnibusfahrt von einer guten Stunde bis zum eigentlichen Badeorte. Jetzt, wo endlich die Eisenbahn fertig geworden ist, braucht man vom Fuße der Zitadelle aus nur vierzig Minuten und macht die Tour hin und zurück für einige Franken.

Schon in sehr alter Zeit, im siebenten Jahrhundert, also noch vor der Gründung des heutigen Kairo, waren die Heilquellen von Helwan bekannt, denn die beiden arabischen Geschichtsschreiber Elkendi und Makrisi aus jener Zeit erzählen, wie der damalige Herrscher Abdul-Asis die Stadt Fostat, das jetzige Alt-Kairo, wegen der dort ausgebrochenen Pest verlassen habe und mit seinem ganzen Hofstaat und seinen Truppen nach Helwan übergesiedelt sei. Makrisi spricht speziell auch von den Heilquellen, die man dort entdeckt habe, und in jüngster Zeit hat man bei den Nachgrabungen noch Mauerreste gefunden, die unzweifelhaft aus jener Periode stammen. Später gerieten im Lauf der Jahrhunderte die Quellen ganz in Vergessenheit, und erst unter Mohamed-Ali, dem großen Regenerator Ägyptens, finden wir sie wieder erwähnt; man hatte dort eine Art von Bassin mitten in der Wüste gegraben und notdürftig ausgemauert. Die an Hautkrankheiten und Rheumatismus leidenden Araber aus der Umgegend zogen dorthin, um zu baden, und campierten dabei unter Beduinenzelten. Auch die beiden Nachfolger des großen Vizekönigs interessierten sich nicht weiter dafür, und erst unter dem jetzigen Khedive und auch erst im Jahre 1871 wurde die Aufmerksamkeit wieder auf Helwan gelenkt und diesmal in ernster und nachhaltiger Weise.

Das Hauptverdienst dabei gebührt unstreitig unserm deutschen Landsmanne, dem Dr. Reil, der als der eigentliche Schöpfer des Wüstenbades anzusehen ist. Dr. Reil, seit langen Jahren in Kairo ansässig, wo er sich als tüchtiger Arzt eine große Praxis gegründet hatte, unternahm im Jahre 1871 auf eigene Hand und in Verbindung mit einigen Freunden eine Expedition nach dem damals so gut wie ganz vergessenen Helwan, um die Quellen zu untersuchen und sich in Person zu überzeugen, ob sich die Anlegung einer Badeanstalt dort verlohne. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen: nicht allein, dass sich die vorhandenen Schwefelquellen als sehr reichhaltig und an einigen Patienten die Dr. Reil gleichfalls mitgenommen hatte, als sehr heilsam erwiesen, man fand auch noch verschiedene Salzquellen und machte schließlich die gewiss sehr merkwürdige Entdeckung, dass das ganze Plateau auf mehr als zwei Stunden im Umkreise von unterirdischem Schwefel- und Salzwasser getränkt war, oder, wie sich Dr. Reil sehr richtig ausdrückte, einem vollgesogenen Schwamme glich.

All dies genügte, um den Khedive für die Sache lebhaft zu interessieren und die nötigen Unterstützungsgelder zur Errichtung der Bäder und übrigen Gebäude von ihm bewilligt zu erhalten, zumal die chemische Analyse, namentlich der Schwefelquellen, eine sehr günstige war und dieselben den berühmtesten Quellen Europas an die Seite stellte.

Schon im ersten Jahre war ein provisorisches Badehaus fertig, dem bald darauf ein großes massives Gebäude folgte, desgleichen eine vorläufige Herberge zur Aufnahme von Badegästen, die jetzt ebenfalls durch ein schönes, mit europäischem Komfort eingerichtetes Hotel ersetzt worden ist. Auch ein besonderes Badehaus für den Khedive und die vizekönigliche Familie wurde gebaut: eine große Rotunde im arabischen Styl. Das Gebäude ist mit orientalischer Pracht ausgestattet; die einzelnen Badezimmer sind mit Marmor ausgelegt und die Kuppeln aus farbigen Gläsern zusammengesetzt. Die Mutter des Khedive nahm dort vor einigen Jahren mit großem Gefolge einen längeren Aufenthalt und sanktionierte dadurch gewissermaßen das Wüstenbad zum Gebrauche für die vornehme Welt.

Mit großer Liberalität verschenkte darauf der Khedive die umliegenden Bauplätze an jeden, der ihn darum bat, unter der einzigen Bedingung, binnen Jahr und Tag dort ein Gebäude aufzuführen. Sogar das Material zu diesen Bauten durfte man sich aus den naheliegenden Steinbrüchen des Mukattamgebirges (die schon im Altertum die Steine zu den ungeheuren Pyramidenbauten geliefert hatten) umsonst holen. Auf diese Weise entstanden in wenigen Jahren eine Menge großer und kleiner Häuser und Villen, unter den Letzteren manche in sehr geschmackvollem Stil, die zusammen jetzt schon einige Straßen bilden. Auch Gärten und Anlagen wurden geschaffen, indem man durch ein großes Dampfpumpenwerk das Wasser von dem über vier Kilometer entfernten Nil auf das Plateau leitete. Auch hier bewährte sich die alte Zauberkraft des Flusses: wohin immer, und wäre es die kahlste Wüste, seine befruchtenden Fluten geleitet werden, verwandelt sich alsbald das Erdreich in kulturfähigen Boden, der, wenn nur in der sorgfältigen Bewässerung nicht nachgelassen wird, den reichsten Ertrag liefert.

So war denn aus der ehemaligen nackten Sandwüste ein blühender Ort geworden, der sich mit jedem Jahr vergrößerte und immer mehr Fremde und Einheimische anzog, sowohl zum bloßen Aufenthalt in der reinen prächtigen Wüstenluft wie auch zum Gebrauch der Bäder, deren Heilkraft gleichfalls einen immer größeren Ruf erlangte. Nur die schnelle und bequeme Verbindung fehlte noch, um Helwan zu einer Vorstadt von Kairo zu machen, und jetzt, wo auch dies durch die neue Eisenbahn geschehen ist, wird das ›Schwefelbad in der Wüste‹ gewiss recht bald einen noch größeren und erfreulicheren Aufschwung nehmen.

• Adolf Ebeling

• Auf epilog.de am 20. Oktober 2016 veröffentlicht

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