Handel & IndustrieBergbau

Abschied vom Bergwerk Auguste Victoria

tvi.ticker • 18. Dezember 2015

Voraussichtliche Lesezeit rund 7 Minuten.

Im Zuge der Beendigung des deutschen Steinkohlenbergbaus stellt das Bergwerk Auguste Victoria in Marl die Förderung ein. Damit schließt das vorletzte Steinkohlenbergwerk im Ruhrgebiet und das drittletzte in Deutschland und es gehen mehr als 115 Jahre Bergbau in Marl zu Ende – ein prägender Faktor für die Region. Im letzten Jahr vor der Schließung förderten 2000 Beschäftigte über 3 Mill. t Steinkohle und lagen damit über den vorgegebenen Förderzielen. Den höchsten Beschäftigtenstand hatte das Bergwerk im Jahr 1957 mit über 11 000 Belegschaftsmitgliedern.

AbteufmannschaftFoto: RAG-ArchivEs ist fast geschafft: die Abteufmannschaft vor dem Schacht AV 2, der 1906 in Betrieb ging.

Das Bergwerk wurde 1899 von zwei Düsseldorfer Unternehmern im nördlichen Teil des Ruhrgebiets gegründet und entwickelte sich schon früh in enger Verbundenheit zur chemischen Industrie. Während die Hellweg- und die Emscherzone bereits von der Industrialisierung erfasst waren, wartete Marl noch darauf, mitsamt seinen Kohlevorkommen erweckt zu werden. Ende des 19. Jahrhunderts waren es etwa 20 Bohrgesellschaften, die sich um die Rolle des Prinzen bemühten. Am Ende setzte sich der Düsseldorfer Kaufmann und Kommerzienrat August Stein durch, der zusammen mit dem Ingenieur Julius Schäfer 1897 erfolgreiche Schürfbohrungen im Bezirk Hüls niederbrachte.

Im Jahr darauf wurden die zwei 100-teiligen Gewerkschaften Hansi I und Hansi II zum Grubenfeld Auguste Victoria (AV) konsolidiert. Der Grubenvorstand beschloss den Bau einer Zwillingsschachtanlage mit zwei Doppelschächten. Die Teufarbeiten begannen im Jahr 1900. Schacht AV 1 nahm 1905 die Förderung auf. Im ersten Jahr betrug die Fördermenge 1221 t Steinkohle. 1906 kam es zur Verbindung mit Schacht AV 2. In jenem Jahr förderten 900 Mitarbeiter 46 772 t Kohle zutage. 1907 waren es bereits 155 730 t. Mit der Aufnahme der Steinkohlenförderung war die Bergbauregion Marl wachgeküsst und der Name Auguste Victoria in der Region etabliert. Die Namensgeberin der Zeche, Auguste Victoria, Prinzessin von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, war die letzte deutsche Kaiserin und Königin von Preußen. Sie lebte von 1858 bis 1921 und hatte im Jahr 1881 den späteren Kaiser Wilhelm II. geheiratet.

Die Chemieindustrie übernimmt

Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte die chemische Industrie Interesse an AV, unter anderem weil sich der Kohlenbedarf dieses Wirtschaftszweiges stetig erhöhte. Und so wurde 1908 der sogenannte Dreibund neuer Eigentümer von AV. Dreibund war der Name einer Interessengemeinschaft aus BASF, Bayer und Agfa, die AV gemeinsam zu einem Kaufpreis von 17,7 Mill. Mark erwarben. Im Außenverhältnis trat die BASF als alleiniger Käufer auf.

MaschinenhalleFoto: RAG/Thomas DümmermanMächtige Maschine: Die ›Erzschachtfreunde‹ des Heimatvereins Marl retteten die Maschinenhalle des Schachts 4 und machen Bergbau weiterhin erlebbar.

Vor Beginn des Ersten Weltkriegs erwirtschaftete eine Belegschaft von etwa 2600 Mitarbeitern rund 715 000 t Kohle und 296 000 t Koks auf AV. Die Koksofenbatterie hatte im Jahr 1908 ihren Betrieb aufgenommen. Weitere Expansionspläne waren bereits genehmigt, mussten aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verworfen werden. Von 1923 bis 1925 hemmte die belgisch-französische Ruhrbesetzung den Fortschritt.

Während des Kriegs ergaben sich einige wichtige Entscheidungen für das Bergwerk. So wurde der bisherige Eigentümer, der Dreibund, zur sogenannten Kleinen I. G. Aus dieser Verbindung entstand 1925 die Interessengemeinschaft Farbenindustrie Aktiengesellschaft, kurz I. G. Farben. Zudem trat AV dem Kohlen-Syndikat bei. 1937 verlor Auguste Victoria seine rechtliche Selbstständigkeit und wurde eine Betriebsstätte der I. G. Farbenindustrie AG. Ein Jahr darauf kam es zur Gründung der Chemischen Werke Hüls, mit denen AV eine enge Kooperation einging.

Wie bereits der Erste Weltkrieg stoppte auch der Zweite Weltkrieg die Zukunftspläne von Auguste Victoria. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs beschäftigte AV knapp 8500 Menschen. Die tägliche Förderung belief sich auf etwa 4000 t Reinkohle und gut 1000 t Koks. 1945 zerstörte ein Luftangriff Teile der Schachtanlage AV 1/2 und sorgte damit für eine zwischenzeitliche Stilllegung des Werks.

Nur etwa zwei Monate nach dem Angriff nahm das Bergwerk die Förderung auf Schacht AV 3 wieder auf. Die entstandenen Kriegsschäden betrugen etwa 8 Mill. Mark. Nach Kriegsende kam es zu zahlreichen Inhaftierungen von Entscheidungsträgern des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats durch die britischen Besatzer.

letzte SchichtFoto: RAG/Martin JustaEnde 2015 fahren die Bergleute ihre letzte Schicht. Damit verabschiedet sich der aktive Bergbau aus Marl.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann auf Auguste Victoria die Zeit des Wiederaufbaus. 1946 arbeiteten hier etwas mehr als 3000 Mitarbeiter. Bereits 1957 erreichte die Mitarbeiterzahl von AV ihren Höchststand mit über 11 000 Belegschaftsmitgliedern. Viele davon kamen aus dem Münsterland, aus Orten wie Dülmen, Ahaus oder Gronau. Damit sorgte AV für eine Art Völkerverständigung zwischen dem industriell geprägten Kohlenpott und dem naturverbundenen Münsterland.

Die nächste große unternehmerische Wandlung stand im Jahr 1953 an. Nach der Auflösung der I. G. Farben sicherte sich die BASF das Eigentum an der Gewerkschaft Auguste Victoria. Im gleichen Jahr kam es zur Übernahme aller Anteile an der angrenzenden Gewerkschaft Lippramsdorf. Der Aufstieg setzte sich in den folgenden Jahren weiter fort. So nahm 1960 die Doppelschachtanlage AV 3/7-6 die Förderung auf. Doch schon bald musste sich AV einer verschlechterten Marktlage stellen. Als Reaktion darauf stellte das Bergwerk 1962 den Erzbergbau nach 26 Jahren ein und legte die 1906 eröffnete Zechenziegelei still. Im Jahr darauf beschlossen die Entscheidungsträger die Stilllegung der Kokerei. Die verbleibende Kohlenkapazität allein wäre nicht in der Lage gewesen, AV langfristig am Leben zu erhalten. Die Lösung war mutig, aber erfolgreich. Die Verantwortlichen setzten in diesem schwierigen Umfeld weiter auf Kohle. 1963 stimmte der Aufsichtsrat für eine Verlagerung der Förderung in die nördlich angrenzende Lippemulde.

1969 wurde die Ruhrkohle AG (RAG) als vereinende Gesamtgesellschaft der wirtschaftlich angeschlagenen Ruhrzechen gegründet. Die BASF weigerte sich, das Bergbauvermögen der Gewerkschaft Auguste Victoria in diese neue Einheitsgesellschaft einzubringen. So kam es zum Kooperationsvertrag zwischen Auguste Victoria und der RAG. Mit Hilfe dieses Vertrags sicherte sich AV die dem Steinkohlenbergbau allgemein zustehenden Hilfen der öffentlichen Hand. Ab 1970 verkaufte das Bergwerk unter dem Namen ›AV-Ruhrkohle‹ auf eigene Rechnung.

Erst 1991 übernahm die RAG das Bergwerk Auguste Victoria mitsamt den rund 5000 Beschäftigten. AV blieb zunächst ein rechtlich selbstständiges Unternehmen. Die BASF blieb als einer der größten Abnehmer eng mit Auguste Victoria verbunden. Zum damaligen Zeitpunkt war das Bergwerk in einem technisch guten Zustand und entsprechend leistungsfähig. Das sollte einer der Gründe sein, warum AV – neben Prosper-Haniel in Bottrop – als eine der letzten beiden fördernden Zechen des Ruhr-Bergbaus erhalten blieb. 1993 lag der Planvorrat in den drei Baufeldern West, Ost und Mitte bei insgesamt rund 126 Mill. t. Ab 1996 wurde Auguste Victoria als Betrieb der Ruhrkohle Bergbau AG geführt.

RückbauFoto: RAG/Thomas DümmermannBeim Rückbau demontieren die AV-Mitarbeiter die gesamte Infrastruktur des Bergwerks, darunter auch die sogenannten Dieselkatzen.

Trotz moderner Technik und hoher Leistungsfähigkeit blieb AV von den einbrechenden Weltmarktpreisen Ende der 90er Jahre nicht verschont. So beschloss die Deutsche Steinkohle AG (DSK) im Jahr 1999 den Zusammenschluss der Schachtanlage Blumenthal/Haard mit Auguste Victoria. Noch vor dieser Verbindung erreichte die Fördermenge von AV einen neuen Rekord: 3,54 Mill. t Kohle förderten rund 4000 Beschäftigte im Jahr 2000 zutage.

Das 2001 entstandene Verbundbergwerk erhielt den Namen Auguste Victoria/Blumenthal. 2006 erzielten die Beschäftigten mit etwa 3,4 Mill. t das zweitbeste Förderergebnis der Unternehmensgeschichte. Das Grubenfeld umfasste rund 227 km². Nachdem alle ehemaligen Schächte von Blumenthal/Haard stillgelegt worden waren, blieben die Schächte AV 3/7 und AV 8 bis zum Ende erhalten. Im letzten Jahr vor der Schließung förderten 2000 Beschäftigte über drei Millionen Tonnen Kohle zutage und lagen damit über den für das Jahr 2014 vorgegebenen Förderzielen.

Im Dezember 2015 fahren die Bergleute ihre letzte Schicht auf Auguste Victoria. Damit verabschiedet sich der aktive Bergbau nach über 100 Jahren aus Marl und hinterlässt eine Stadt, die das Auf und Ab der Branche hautnah miterlebte. Auf Auguste Victoria verbleiben 2016 noch etwa 450 Beschäftigte, die sich um verschiedene Aufgaben rund um die Abwicklung des Bergwerks über und unter Tage kümmern.

Quelle: RAG Aktiengesellschaft

• Auf epilog.de am 25. Dezember 2015 veröffentlicht

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